Goetheanismus und Globalisierung

Martin Schlüter

Auf der Klimakonferenz am 27. September 2013 in Stockholm stellte der Weltklimarat seine aktuellen Ergebnisse vor: Die Gletscher, das Inlandeis Grönlands und der Antarktis schmelzen weiter, der Meeresspiegel steigt und die Permafrostböden der arktischen und antarktischen Tundren verkleinern sich zusehends. Diese Entwicklung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dem Menschen zuzuschreiben. Das bedeutet: Wir können das Leben der Erde nur begreifen, wenn wir uns selbst in die Betrachtung mit einbeziehen. Wir müssen erleben und erkennen lernen, wie Erde und Mensch zusammenhängen, sonst bleiben wir in der uns existentiell betreffenden Entwicklung blinde Akteure. Ein weites Erfahrungsfeld für den Zusammenhang von Erde und Mensch bietet der Jahreslauf. Woran erleben wir ihn vor allem? Im Frühling und Sommer wird es wärmer, heller, die Natur lebt auf, wird klangvoller. In Herbst und Winter wird es kälter, die Tage werden kürzer, es wird dunkel und still, das Leben zieht sich in die Erde zurück. An Wärme-, Licht- und Klangqualitäten, am Aufleben und Absterben der Natur erfahren wir die einander ablösenden Jahreszeiten.

Wollen wir die Zeiten des Jahres in ihren eigentümlichen Qualitäten erkunden, so können wir sie einfach »erfahren«: Fahren wir nur weit genug nach Norden, kommen wir in die winterliche Stille. Dabei werden wir mehr und mehr auf unser Inneres verwiesen. In arktischer Umgebung können wir die äußere Orientierung sogar völlig verlieren. So beschrieb Alfred Wegener (1880-1930) ein für diese Breiten charakteristisches Erlebnis in »Mit Motorboot und Schlitten in Grönland« (1930): »Im Allgemeinen hatten wir auf diesem Marsch unserer Spur folgen können, auch waren die Schneemänner auf dieser letzten Strecke noch gut erhalten. Schwierigkeiten entstanden nur dann, wenn der Himmel mit einer überall gleich dicken Wolkendecke überzogen war. Wenn nämlich dies diffuse Licht von allen Seiten mit gleicher Stärke kam, so verschwanden alle Unebenheiten des Bodens vollkommen für das Auge. Es war dann unmöglich, überhaupt den Boden wahrzunehmen, auf dem man ging. Das verursachte eigenartige Gefühle und Täuschungen, ganz besonders beim Vorangehenden, der in ein großes Nichts hineinmarschierte. Aus dem Bestreben, den Boden, von dessen Existenz er ja doch überzeugt war, zu erkennen, entsprangen Halluzinationen: Bald glaubte er sich einer Wand gegenüber und erwartete im nächsten Moment mit der Stirn dagegen zu rennen; bald hatte er die Vorstellung, auf einer stark von links nach rechts geneigten Fläche zu balancieren. Ein andermal glaubte er zu bemerken, dass es bergauf oder bergab ginge und stolperte, weil der Boden horizontal blieb. Dann kam wirklich einmal eine kleine erhöhte Schneewehe, und schon lag er auf der Nase.«

Ganz entgegengesetzte Verhältnisse finden wir, wenn wir nach Süden in den Dauersommer äquatorialer Breiten reisen. Dort werden wir immer stärker in die kraftvoll sommerlichen Verhältnisse eingebunden. So lesen wir in Ernst Haeckels »Malayischen Reisebriefen« (1905): »Während des größten Teils des Jahres läuft der tägliche Wechsel von Wärme und Feuchtigkeit im Äquatorialklima von Buitenzorg (heute Bogor auf Java, Indonesien) mit solcher Regelmäßigkeit ab, wie es an wenigen Orten der Erde der Fall ist. Die schönsten Stunden des Tages sind die vier Morgenstunden von 5 bis 9 Uhr; das Erwachen des jungen Tages, die erfrischende Kühle, der Glanz der glitzernden Tautropfen auf den Blättern, die im Lichte der aufsteigenden Sonne zu funkelnden Diamanten werden.

Um 9 Uhr vormittags beginnt die hoch aufsteigende Tropensonne ihren mächtigen Einfluss gefahrdrohend zu entfalten, in zunehmendem Maße bis zur Mittagszeit. Es gilt die allgemeine Regel, während dieser heißesten Zeit das Arbeiten im Freien zu vermeiden und im kühlen Zimmer oder Laboratorium zu bleiben; diese Stunden sind (nächst den kühlen Morgenstunden) auch für wissenschaftliche Untersuchungen die beste Arbeitszeit des Tages. Ich versuchte wiederholt, jener zweckmäßigen Regel zu trotzen und bis zur heißesten Mittagszeit im Garten zu sammeln, zu malen und zu fotografieren. Diesen Leichtsinn musste ich mit einer starken Erkältung und rheumatischem Fieber büßen …«

So finden wir auf unseren Reisen die wohlbekannte räumliche Gliederung der Erde in die drei großen klimatischen Bereiche: die Polarzone, die Tropen und deren Begegnung in den mittleren Breiten. In unseren mittleren Breiten lösen polares und tropisches Klima – im Sommer und im Winter gemildert – einander ab. Die Großklimazonen der Erde erscheinen als Frühling, Sommer, Herbst und Winter und bilden ein in sich gegliedertes zeitliches Ganzes: den Jahreskreislauf.

An einem bestimmten Tag im Jahre tritt immer nur eine Seite des lebendigen Ganzen mehr oder weniger deutlich ausgeprägt in Erscheinung. Das aber ist ein Charakteristikum eines Lebewesens: Es entsteht und vergeht. Seine sinnliche Erscheinung wandelt sich, und doch ist es immer ein und dasselbe Wesen, das nur ideell in seiner Ganzheit erfasst werden kann. Wie es für das Erfassen einer Pflanze nicht ausreicht, nur einen sinnlichen Aspekt ihres Wesens ins Auge zu fassen – etwa den der Blüte – so können wir das Wesen der Erde in ihrer lebendigen zeitlichen Gestalt nicht nur durch einen Aspekt – etwa des Sommers – erfassen.

Im Jahreslauf der mittleren Breiten wird die physisch-räumliche Gestalt der Erde mit ihrer Gliederung in die drei großen Klimazonen in eine einheitliche, nur ideell erfassbare Zeitgestalt hinein aufgehoben. Der Jahreslauf wird so zu einem Tor für das individuelle Miterleben des lebendigen Zusammenhangs von Mensch und Erde.

Werner Heisenberg beschrieb in seinem Werk »Ordnung der Wirklichkeit« (1989) den Impuls der modernen Physik, Welterkenntnis mit Selbsterkenntnis zu verbinden, als zentralen Impuls der gegenwärtigen Wissenschaftsentwicklung. Dieser Impuls ist – wenn es gelingt – heute im alltäglichen Leben angekommen.

Zum Autor: Dr. Martin Schlüter war viele Jahre Physik- und Mathematiklehrer. Seit 2009 ist er Dozent am Institut für Waldorf-Pädagogik Witten/Annen.