Grammatik als Entdeckungsreise

Jürgen Reinhardt

Waldorfmäßiger Sprachunterricht ohne Schulbuch kann seine Tücken haben: Der Schüler kann sein grammatisches Regelheft auch nach mehrtägiger Suche nicht mehr finden. Sein Nachbar will es ihm gerne ausleihen, aber als die Lehrerin sicherheitshalber vorher noch einmal einen Blick hinein wirft, stellt sie fest, dass hier nicht nur Etliches fehlt, sondern auch Einiges unleserlich ist. Außerdem entdeckt sie bei genauerem Hinsehen auch schon die ersten Fehler …

Der verwirrende Alltag

Vielleicht fallen Ihnen beim Lesen dieser Zeilen auch noch ganz andere Situationen ein, wie  die eine oder andere Klassenübergabe im Fach Englisch. Natürlich gibt es die fleißigen Schüler, die ihre  Aufzeichnungen in solchen Fällen gerne zur Verfügung stellen. Aber wie aufwendig ist der weitere Verlauf in solchen oder ähnlichen Fällen mit der ganzen Klasse im pädagogischen Alltag! Aufzeichnungen müssen im Einzelnen immer wieder überprüft werden, bedürfen genauerer Erklärungen und so weiter und so fort.

Oder es kommt eine neue Schülerin in die Klasse: Sie hat fast gar keine Aufzeichnungen zur Grammatik, und die Lehrkraft möchte sie möglichst gut und rasch in die Klasse integrieren. Vielleicht hat man dann noch die zwölfte Klasse bis zum Abitur übernommen, die behauptet, von Partizip, Gerundium und einer ganzen Reihe wichtiger präpositionaler Ausdrücke noch nichts gehört zu haben.

Wie viel schaffen Lehrer tatsächlich, bei der Fülle des Stoffs, über die Tafel in die Schülerhefte zu transportieren? Und wie viel muss man dann doch noch mühselig zusätzlich auf zu verteilenden Blättern mit Listen zusammenstellen, um zu bemerken, dass sich wieder einmal eine wichtige Seite aus dem Schnellhefter des Schülers verabschiedet hat?

Der Griff nach dem Schulbuch: die Rettung?

Angesichts solcher Herausforderungen mag die verständ­liche Neigung entstehen, zum Schulbuch zu greifen, so wie es an staatlichen Schulen verwendet wird. Die Frage, auf die es hierbei hinaus läuft, ist: Wird man der Herausforderung gerecht, wenn man das qualitativ durchaus gute Schulbuch verwendet, das an der Realschule oder am Gymnasium  benutzt wird? In other words: Does the end justify the means? Auf diese Frage wird im weiteren Verlauf noch einmal einzugehen sein.

Was aber an dieser Stelle in der Tat oft bedauerlich erscheint, ist die Tendenz, Grammatik nur noch in einer Art »Sparversion« – möglicherweise sogar fast gar nicht – zu betreiben. Ebenfalls leider nicht unbekannt ist die Empfindung, Grammatikunterricht sei nichts als lästige, trockene »Paukerei«. Wie entkommt man als Lehrer – und vor allem als Schüler –  diesem Dilemma? Wie lassen sich Leistung und »Waldorf« vereinbaren? Wie entsteht guter Grammatik­unterricht? Was können Eltern beitragen? Können Bücher helfen?

Verschiedene Sprachen sprechen verschiedene Aspekte des Menschseins an

Die erste und grundlegende Antwort ist praktischer Natur und schnell gegeben: Mehr denn je kommt es darauf an, dass die nachwachsenden Generationen Englisch oder  mehrere Fremdsprachen fließend und wie einen »zweiten Mantel« zur Verfügung haben. Dies erklärt sich nur vordergründig aus den schulischen Anforderungen. Wesentlich profunder erschließt sich dies aus einem verständigen Blick in die immer stärker vernetzte und globalisierte Welt. Diese Welt braucht kosmopolitisches Bewusstsein, Denken, Fühlen, Handeln und vor allem Sprache! Rudolf Steiner betont, dass die verschiedenen Sprachen jeweils auch verschiedene Bereiche in uns besonders ansprechen und ausbilden. So regt das Englische, eine pragmatisch orientierte »Verbsprache«, einen anderen Aspekt des universellen Menschseins an, als eine Kategorien- und Begriffssprache wie das Deutsche aus dem tendenziell eher »systematisierenden« Raum.

Die Lehrer werden immer wieder darauf hingewiesen, dass der Spracherwerb spielerisch und bildhaft zu sein habe. Sie sollen Sprache so unterrichten, dass sie mit Gefühl erlebt werden kann und Grammatik, in ihrer analysierenden Tätigkeit, den Schüler weckt.

Der Ansatz der Waldorfpädagogik besagt: Das gehörte, gesprochene, gelesene, erlebte, durchfühlte Wort steht stets als Phänomen, als »Rohmaterial« am Anfang. Nur so kann wirklich umgesetzt und angewandt werden, was wir in unserer Pädagogik als goetheanistischen Ansatz und als induktive Methode verfolgen.

Mit manchen grammatischen Phänomenen lässt sich zaubern

Auch im Fremdsprachenunterricht sind die Lehrer aufgerufen, die Schüler beim Kennenlernen neuer Phänomene auf eine spannende, humorvolle Erlebnisreise voll von eigenen Entdeckungen mitzunehmen. Ob man zu Beginn einer Unterrichtsstunde eine Zeile aus einem Lied nimmt, ob man eine kleine Szene mit bestimmten Texten vorspielen lässt, ob man mit einer bestimmten Frage eröffnet, um dann geeignete Formen oder Sätze gemeinsam an der Tafel zu sammeln und gemeinsam zu untersuchen, ob man Techniken aus dem Bereich des Creative Writing nutzt … es gibt unendlich viele Wege, um erst einmal sprachliche Ausdrucksformen in die Erlebnismitte einer Klasse oder Lerngruppe zu stellen. Humor und begeisterte Wachheit für den Erlebnismoment in der ersten Phase einer Grammatik-Einheit  spielen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Es wird stets einzelne grammatische Phänomene geben, bei denen man im Unterricht auf vielerlei Art »zaubern« kann, und andere, an die man recht direkt und ohne viele Umschweife herangehen möchte. Wichtig ist, dass nicht die grammatische Regel am Anfang steht, sondern authentische Sprache, die erlebt, gefühlt und betrachtet wird.

In einem zweiten Schritt kommt es darauf an, die Neugier und den enthusiastischen Ehrgeiz des menschlichen Entdeckergeistes anzuregen. Hierbei ist der Lehrer lediglich »Hexenmeister«, also derjenige, der provokative Fragen stellt, zielführende Hinweise streut und begeistertes Lob für von Schülern selbst errungene Fortschritte und Erkenntnisse verteilt. Am Ende – im dritten Schritt – wird die selbst erarbeitete Regel im grammatischen Regelheft aufgeschrieben.

In dieser Weise kann eine fruchtbare Grundlage für den Fortlauf des Unterrichts entstehen.

Für Eltern und Lehrer schließen sich einige Fragen an:

• Wie können Eltern diese Lernprozesse sinnvoll begleiten?
• Was kann oder sollte neben dem Bearbeiten der Hausaufgaben zu Hause geschehen?
• Reichen selbst geschriebene Hefte als einzige verlässliche Dokumentation aus?

Was können Eltern tun?

Was die Eltern anbetrifft, so sind der Enthusiasmus, die Neugier und die Freude an erfolgreicher Lernaktivität das impulsierende »Herz-Kreislauf-System« des Lernens. Bei häuslicher Schularbeit fruchten nicht erstickende Kontrollen, sondern vitales Interesse seitens der Eltern. Allerdings ist es die »Dosis«, die über »Gift oder Heilmittel« entscheidet. Es braucht auch den dezenten Rückzug zur rechten Zeit, nämlich bevor das Kind oder der Heranwachsende zum »Stellvertreter« der Erwachsenen und ihrer eigenen Ambitionen wird.

Wenn die Schulsachen für den nächsten Tag sortiert und eingepackt werden, sollte sich an irgend einer Stelle noch regelmäßig die Gelegenheit finden, Dinge zu üben, die in eine selbstverständliche Geläufigkeit übergehen müssen. Bewusst ist hier von »Gelegenheit« und nicht von »Zeit« die Rede. Eine solche Gelegenheit zum Üben sollte für andere Fächer wie für Englisch je nach Bedarf lediglich zwischen 5 und 15 Minuten beanspruchen. Nur so kann gewährleistet bleiben, dass die Übgelegenheit auch zur regelmäßigen Übgewohnheit wird. Und nur die »Übgewohnheit« kann dann auch die »Gewohnheitsmäßigkeit« der zu erlangenden Kompetenzen erzeugen. Jedes unangebrachte Überschreiten dieses sehr rasch erreichten Zeitlimits führt sonst zur Überfrachtung des Alltags.

Noch einmal: Schulbücher

Die Frage, ob das handschriftliche Festhalten von Inhalten, wie beispielsweise grammatischen Regeln und Gesetzen, eine ausreichende und verlässliche Dokumentationsform darstellt, führt unter anderem zur Diskussion über Schulbücher. In seinem Buch »Teaching English« untersucht Alec Templeton genauer, worum es bei der immer wiederkehrenden Schulbuchfrage eigentlich geht. Neben allen anderen Kriterien für die Qualität eines Buches geht es im Kern darum, ob ein Schulbuch eine »vorverdaute« oder »vorgekaute« Abfolge von Einheiten und Lektionen darstellt oder nicht. Bücher als solche wurden in der Waldorfschule schon immer gelesen und benutzt, aber nicht als fantasietötende Aneinanderreihung von vorfabrizierten Lektionen.

Entscheidend ist letztlich, ob Schulbücher dem lebendigen Erlebnisfeld zwischen Schüler und Lehrer Raum lassen, ob sie jegliche Schrittfolge, Reihenfolge, Variation, Plan­-änderung, Dehnung oder Kürzung wie selbstverständlich ermöglichen. Schulbücher, die komplexe Menüs von Lektionen vorgeben und damit den Unterricht festlegen, sind hierfür ungeeignet. Geeignet hingegen ist jedes Schriftmaterial, das wie ein geschmeidiger, flexibler Leitfaden alle notwendigen lehrer- und klassenindividuellen Unterschiede, Planänderungen oder Improvisationen jederzeit begleiten kann, und das sich dienlich erweist im Sinne der oben beschriebenen, induktiven Methodik.