Grenzen setzen und durchsetzen?

Markus von Schwanenflügel

Als unser ältester Sohn geboren wurde[1], nahm die antiautoritäre Erziehung gerade Fahrt auf: »Summerhill« von A.S. Neill war die Bibel der Pädagogikstudenten, Kinderläden wurden gegründet, die Freie Schule Frankfurt hatte die ersten Schüler aufgenommen – aber auch der Bestseller »Erziehung zur Freiheit. Die Pädagogik Rudolf Steiners« von Frans Carlgren und Arne Klingborg war erschienen und an den Universitäten gab es die ersten Seminare zur Waldorfpädagogik. Hier kam man dann als ehemaliger Waldorfschüler in die zwiespältige Situation, dass man einerseits die Aufgabe spürte, die Waldorfpädagogik verteidigen zu müssen und andererseits lernte, dass die pädagogischen »Zauberwörter« für das zweite Jahrsiebt Nachfolge und Autorität sind – und feststellte, dass sie jedenfalls von einigen Lehrern falsch verstanden worden waren, denn Steiner betont ja, dass er die selbstverständliche und nicht die erzwungene Autorität meint.[2] Wir Waldorfschüler hatten eben doch auch erlebt, wie versucht wurde, die eine oder andere Verhaltensänderung oder Regel mit Hilfe von irgendwelchen Maßnahmen durchzusetzen. Da ich mit Freunden in einem sozialen Brennpunkt in Hamburg einen Abenteuerspielplatz betreute und wir mit den Kindern und Jugendlichen auch Zeltlager veranstalteten, wurde bis in die tiefe Nacht diskutiert und in der Praxis getestet, was nun wohl der Unterschied zwischen autoritärem Verhalten und Wirken »aus Autorität« ist …

An diese – gerade auch was den Umgang mit Aggression und Gewalt angeht – lehrreiche Zeit und die heißen Debatten darüber, ob die Kinder nun zu einer bestimmten Zeit abends in ihrem Zelt sein müssen oder selbst merken können, wann sie müde sind, wurde ich erinnert, als ich im Novemberheft den Beitrag von Mathias Wais über die Gewalt bei Kindern und Jugendlichen las und über die folgende Formulierung stolperte: »Die Neigung zur Grenzüberschreitung schwillt in dem Maße an, wie Grenzen nicht gezeigt und durchgesetzt werden.«

Wais erkennt als durchgängiges Muster, dass die »gewaltbereiten« Kinder ohne das Erlebnis von Grenzen aufwachsen. Dabei sieht er die Grenzenlosigkeit auf sehr verschiedenen Gebieten: Konsum, Entscheidungskompetenz, Diskussionsbereitschaft, keine Anforderungen usw. und empfiehlt schließlich: »Grenzen zeigen und durchsetzen«. Und hier kamen mir eben Fragen, denn durchsetzen klingt irgendwie doch nach Krafteinsatz und meine Erfahrung zeigt, dass, wenn der nötig ist, das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und nicht erst dann, wie Wais sagt, wenn die Polizei vor der Tür steht. Denn wird das, was ich sage, nicht mehr akzeptiert und ich muss mich mit irgendwelchen Mitteln, d.h. autoritär durchsetzen, so schwächt das meine Autorität, die ja offensichtlich schon nicht mehr als selbstverständlich erlebt wird, noch weiter.

Die geheimen Nachlässigkeiten

Natürlich hatte unser Sohn manchmal keine Lust ins Bett zu gehen … Wenn sich der Junge aber am nächsten Tag auch sträubt und es noch länger dauert, bis er sich die Zähne putzt, sollte ich mich fragen, was ich falsch mache, statt den Druck zu erhöhen. Ist der Knabe vielleicht tatsächlich noch nicht müde? War ich mit ihm zu wenig an der frischen Luft? Oder mache ich selbst irgendetwas nicht regelmäßig, was sinnvoll wäre, aber nicht unbedingt Spaß macht? Ich bin überzeugt, dass die Kinder unsere geheimen Nachlässigkeiten mit feinen Antennen wahrnehmen und sie imitieren; denn »Vorbild und Nachahmung« wirken![3],[4]

Verstehe ich Steiner richtig, so bräuchten wir, wenn es keine Störungen gäbe[5], die Kinder nicht zu erziehen. Nachahmung für das erste und Nachfolge für das zweite Jahrsiebt sind die fundamentalen Lerngesten des Kindes. Die Erwachsenen in seiner Umgebung müssen wissen, dass es nachahmt und nachfolgt. Dabei sind diese für die Waldorfpädagogik grundlegenden Begriffe ja (auch) bildhafte Ausdrücke: Es ist eben nicht nur die äußere, sondern auch die seelische und die geistige Umgebung gemeint. Und für diese sind nun einmal die Erwachsenen verantwortlich, sie sind die Umgebung und müssen »nur« dafür Sorge tragen, dass sie selbst nachahmens- und nachfolgenswert sind.

Aber, wie ist das denn nun mit den Grenzen? Ist da nicht doch etwas dran?

Gefängnis oder Schutzraum?

Bei meiner Mutter im Keller gab es noch ein Kinderställchen, das sie bei der ersten weihnachtlichen Familienfeier mit unserem gerade etwas mobil werdenden Sohn ihrer Schwiegertochter anbot, damit sie ungestört ihren hausfraulichen Verpflichtungen und ihren Interessen nachgehen könne. Die dadurch provozierte Diskussion ihrer schon damals auf pädagogischem Gebiet außerordentlich kompetenten Kinder über die Frage, ob ein Ställchen nun Käfig oder gar Gefängnis oder im Gegenteil Schutz des Kindes vor den Unbilden der Welt und ansonsten einfach praktisch sei, verhinderte fast, dass noch mit »Ich steh an Deiner Krippe hier« eines anderen Stalles gedacht wurde …

Meine Mutter ließ nicht locker und veröffentlichte[6] eine Art offenen Brief an ihre Kinder in Form eines Grundsatzartikels über den pädagogischen Wert des Kinderställchens, mit der Folge, dass das Ställchen bei uns zum Einsatz kam. Sensibilisiert, wie wir waren, merkten wir allerdings sehr schnell, als das Gitter für unseren Sohn nicht mehr der richtige Rahmen war: Er konnte die ersten Schritte frei laufen und prompt wehrte er sich, wenn er ins Ställchen gesetzt wurde. Während es vorher eine natürliche Grenze war, an der er lernte, sich aufzurichten, war es nun ein Käfig geworden – und, sein Geschrei machte es deutlich, da gehörte ein Kind mit seiner Kompetenz nicht mehr hinein.

Gefühlte Grenzen

Wir können an diesem Beispiel gut sehen, dass keine Grenze objektiv, für jeden gleich hoch ist. Es geht immer um »gefühlte Grenzen« und davon gibt es, meine ich, mindestens drei Arten:

Da sind zunächst einmal die Begrenzungen, die wir an uns selbst, individuell erleben: nicht lesen können, nicht durch den dunklen Wald gehen können, sich nicht konzentrieren können, aber auch: zu viel am PC sitzen, zu viel reden. Von dieser Art sind die Grenzen, die wir und auch die Jugendlichen »suchen« und sicher ist es gut, wenigstens einige dieser Grenzen als Herausforderungen zu erkennen und zu versuchen, sie wenigstens zu verschieben.

Dann gibt es Grenzen, die unsere Umgebung uns aufzeigt: unsere Mitmenschen, die Tiere, die Umwelt. Uns wird signalisiert: Du verletzt mich, Du trittst mir zu nahe, Du störst mich … Wir sollten lernen, das wahrzunehmen und zu respektieren.

Und schließlich gibt es von Menschen gemachte, in gewisser Weise willkürliche Grenzen wie Landesgrenzen, Gitter von Ställchen, aber auch Konventionen und Gesetze und Regelungen für den Zuckerkonsum oder die Handynutzung, und es ist gut, sich ein kritisches Bewusstsein dafür zu erhalten, dass sie eben menschengemacht und damit immer zeit- und kulturbedingt sind.

Entscheidend ist, dass Kinder und Jugendliche lernen, mit diesen Grenzen umzugehen, wie es die Erwachsenen in ihrer Umgebung tun.[7] Dass wir selbst mehr darauf achten, ist daher sicher sinnvoller, als gegenüber den Kindern Grenzen durchzusetzen; nur die »willkürlichen«, im besten Falle im Dialog mit dem Kinde (auf Zeit) vereinbarten, kämen meines Erachtens dafür überhaupt in Frage.

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel ist seit 38 Jahren Oberstufenlehrer, zunächst an der Rudolf Steiner Schule Bochum, später an der Windrather Talschule; seit 20 Jahren außerdem Aufbau des Jugendhof Naatsaku in Estland.

www.naatsaku.com

artikel/forum/grenzen-setzen-und-durchsetzen/#_erg

Ergänzungen

1. Hier die entsprechenden Passagen aus dem im Jahre 1907 – also lange vor Gründung der ersten Waldorfschule – veröffentlichten grundlegenden Aufsatz von Rudolf Steiner:

»Es gibt zwei Zauberworte, welche angeben, wie das Kind in ein Verhältnis zu seiner Umgebung tritt. Diese sind: Nachahmung und Vorbild. Der griechische Philosoph Aristoteles hat den Menschen das nachahmendste der Tiere genannt; für kein Lebensalter gilt dieser Ausspruch mehr als für das kindliche bis zum Zahnwechsel. Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im Nachahmen gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann bleiben. Man muss die physische Umgebung nur in dem denkbar weitesten Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell um das Kind herum vorgeht, sondern alles, was sich in des Kindes Umgebung abspielt, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden kann, was vom physischen Raum aus auf seine Geisteskräfte wirken kann. Dazu gehören auch alle moralischen oder unmoralischen, alle gescheiten und törichten Handlungen, die es sehen kann.

Nicht moralische Redensarten, nicht vernünftige Belehrungen wirken auf das Kind in der angegebenen Richtung, sondern dasjenige, was die Erwachsenen in seiner Umgebung sichtbar vor seinen Augen tun. ...

Wie für die ersten Kindesjahre Nachahmung und Vorbild die Zauberworte der Erziehung sind, so sind es für die jetzt in Rede stehenden Jahre: Nachfolge und Autorität. Die selbstverständliche, nicht erzwungene Autorität muss die unmittelbare geistige Anschauung darstellen, an der sich der junge Mensch Gewissen, Gewohnheiten, Neigungen herausbildet, an der sich sein Temperament in geregelte Bahnen bringt, mit deren Augen er die Dinge der Welt betrachtet. Das schöne Dichterwort, »ein jeglicher muss sich seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet«, es gilt insbesondere von diesem Lebensalter. ...«

Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, Erstveröffentlichung in »Lucifer-Gnosis«, Nr. 33, Mai 1907 (GA 34, S. 309-348)

2. Ja, es gibt Störungen dieser von Steiner wie ein Urphänomen beschriebenen Beziehung zwischen dem Kinde und dem Erwachsenen. Es gibt eben nicht nur die möglicherweise heile Welt der eigenen Familie, es gibt (zum Glück) auch noch die weitere Umgebung – und die ist eben in großen Teilen nicht vollkommen. Das führt dazu, dass ärgerliche Kompromisse zum alltäglichen Zusammenleben mit Kindern dazugehören. Nehmen wir als Beispiel das bereits erwähnte Handy: Es besteht Einigkeit darüber, dass seine uneingeschränkte Nutzung für Kinder nicht sinnvoll, ja, je smarter umso schädlicher ist. Es gibt die Dinger aber und andere haben sie und sie sind praktisch ... Ganz egal, welche Grenze ich ziehe und wo, ich ziehe sie, um Schlimmeres zu verhüten und nicht, damit Kinder Grenzen erleben. Eine solche Grenze ist kein pädagogisches Mittel. Sie führt zu Aggressionen, zu Heimlichkeiten, und als Begrenzer muss ich mir tüchtig etwas einfallen lassen, damit der Mangel nicht so stark gefühlt wird. Auch kann ich nur versuchen, eine solche Grenze möglichst lange zu halten und muss mir immer wieder Zeit nehmen, meinem Kinde meinen Standpunkt zu erläutern und muss, meine ich, durchblicken lassen, dass sie willkürlich ist (s.o.), dass die eingerichtete Intenetsperre eine Notlösung ist, weil ich mich (noch) nicht verständlich machen kann.[8]

Es ist m.E. gerade umgekehrt wie M. Wais sagt bzw. zu verstehen gibt: Setze ich eine von mir definierte Grenze einfach durch und halte sie starr aufrecht, so führt das zu Gewalt.

Nun hat die Gewalt, die uns heute so fassungslos macht, die einfach so, grundlos ausbricht, bei der die Täter oft keine Gründe angeben können, m.E. ganz andere Ursachen. Wenn Eltern ihren Kindern verbieten mehr als eine Stunde vor dem Bildschirm zu hocken, und das (autoritär) durchsetzen müssen, weil die Kinder es natürlich viel zu früh nicht mehr selbstverständlich einsehen, so versuchen sie nach bestem Wissen und Gewissen ihre pädagogische  Verantwortung wahrzunehmen. Die Kinder »wissen« das eigentlich und werden trotzdem alles tun, um das Verbot zu umgehen: heimlich fernsehen, wenn die Eltern auf einem Elternabend sind, evtl. ein Schloss knacken, vielleicht sogar irgendwann handgreiflich werden. Ihre Aggression hat aber einen Grund und einen »Gegner«, auch wenn die Tür zu Bruch geht, sie meinen den Vater ... Die Wut ist verständlich und sie vergeht, wenn man es nicht doch übertrieben hat.

Eine Schicht tiefer finden wir Veranlagungen zu Gewalt, die wir uns über die Nachahmung unserer Vorbilder angeeignet haben. Ob es nun Handgreiflichkeiten zwischen den Eltern, Erpressungsversuche, psychische oder verbale Gewalt ist, die in der Kindheit erfahren oder miterlebt wurden: dies führt über die Nachahmung und Nachfolge (s.o.) oft zu einer »Prägung« und der Bereitschaft, Probleme bzw.  Situationen mit Gewalt zu lösen. Auch diese Gewalttätigkeit, diese Gewaltbereitschaft hat also einen Grund ... man hat gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Auch diese (erworbene) Veranlagung ist veränderbar: durch Klärung der Ursachen, durch Wahrnehmung der bzw. Konfrontation mit den Folgen, dadurch, dass man sich vornimmt, sich anders zu verhalten, durch eine Verhaltenstherapie ...

Das, was heute neu ist, jedenfalls in diesem Ausmaß, ist die sinnlose Gewalt – Schlägereien am Rande von Fußballspielen, in der S-Bahn jemandem das Handy wegnehmen, den man vorher nie gesehen hat, und es zerstören  ... Die m.E. »tiefste« Ursache für diese Form der Gewalt ist das Gefühl, dass das Leben keinen Sinn hat, dass die Menschen keine Perspektive haben. Und das gilt umsomehr für die jungen Menschen – nicht nur weil sie jung sind, sondern weil das eine Lebensgefühl ist, das sich Jahr für Jahr weiter ausbreitet und Jahrgang für Jahrgang mehr junge Menschen erfasst. Das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, gepaart mit dem Gefühl, nichts ändern zu können, führt in der inneren Leere zu einer explosiven Gewaltbereitschaft, die eben willkürlich, zufällig ihre Gelegenheit findet und sich Bahn bricht. Wird ein Mensch Mitglied einer Gruppierung, die gegen irgendetwas ist, so erhält die Gewalt eine bestimmte »Richtung«, eine Art Scheinlegitimität, die aber, so hat man den Eindruck, nichts mit der Persönlichkeit des Täters, geschweige denn der des einzelnen Opfers und seinem Schicksal, ja noch nicht einmal mit der  Gruppe, zu der das Opfer gehört, wirklich etwas zu tun hat. Die untergründige Ratlosigkeit bzw. Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens entlädt sich in sinnloser Gewalt.

Auch gegen diese »Form« der Gewalt helfen keine Grenzen, die ich dem jungen Menschen prophylaktisch setze und ihm gegenüber durchsetze. Die Ursache sind die »gesellschaftlichen Bedingungen«[9], unter denen die Kinder und Jugendlichen heranwachsen und unter denen wir letztlich ja alle leben und mit denen wir zu kämpfen haben.

Was hilft den Kindern und Jugendlichen, den Verhältnissen nicht wehrlos ausgeliefert zu sein und sich von ihnen emanzipieren zu können und schützt sie so davor, dieser Form der Gewalttätigkeit zu verfallen? Es ist primär das Schicksal, das Geschenk, in einer Umgebung heranzuwachsen, in der sie Erwachsenen begegnen, die selbst einen Sinn in ihrem Leben sehen, die selbst auf dem Weg sind, nicht als Gruppe, nicht als Glaubensgemeinschaft, sondern ganz individuell. Martin Buber sagt: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Ich würde es etwas variieren – vielleicht meint Buber es ja auch so: Der Mensch lernt in der Begegnung mit dem Menschen, der sein Leben führt, sein eigenes Leben, sich selbst zu führen.[10]

Dieses kann und soll nur ein erster Einstieg sein in eine Auseinandersetzung über die Ursachen der Gewaltbereitschaft – die Analyse müsste vertieft werden, weitere Aspekte sind sicher wichtig und weitere Formen der Gewalt müssten behandelt werden[11]. Was wir aber gewinnen können aus diesen Überlegungen, sind ganz grundlegende Gesichtspunkte für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung von Krippe, Kindergarten und Schule: Die Ausweitung dieses Bereiches in öffentlicher Verantwortung ist eben auch eine große Chance, vorausgesetzt es gelingt, dass die jungen Menschen hier nicht nur aufbewahrt, beschäftigt und beschult werden. Diese Orte müssten immer mehr zu Räumen der  Begegnung werden. Entscheidend dafür wäre, dass gemeinsames Leben stattfinden kann, Begegnung gelingt nur im gemeinsamen Tun.

3. Das gilt sowohl, wenn wir selbst unseren Begrenzungen ausweichen als auch, wenn wir sie annehmen oder versuchen, gegen sie anzugehen. Dabei funktioniert die »Übertragung« nicht direkt: der Sohn wird nicht gegen die gleichen Begrenzungen angehen wie der Vater – er hat ja auch meist andere –, aber er wird einen Sinn darin sehen oder besser: fühlen, seine Grenzen zu überwinden, wenn der Vater es tut. Aber es kommt noch etwas hinzu: Habe ich die Verantwortung für ein Kind oder einen Jugendlichen, so habe ich die Aufgabe, ihn bei seinem Umgang mit den Grenzen zu begleiten: Bei der einen Begrenzung braucht es vielleicht Ermutigung, bei der anderen etwas Hilfe, sie überhaupt wahrzunehmen, z.B. dass sich jemand gestört fühlt. Am schwierigsten sind die von mir als willkürlich bezeichneten Grenzen: Sie sind oft sinnvoll und trotzdem haben auch die Nachgeborenen prinzipiell ein Recht, sie anzuzweifeln. Das muss ich nicht provozieren, indem ich jede Aussage aus Angst, dem Kind zu nahe zu treten, durch ein »Ist das okay für Dich?« [12] gleich wieder selbst in Frage stelle und dem Kind u.U. auf diese Weise eine unvernünftig große Kompetenz zubillige. Widersetzt sich aber ein Kind einer Regelung, so ist »sich durchsetzen« (mit welchen Mitteln auch immer) m.E. keine Option. Auf direktem Wege kann ich nur versuchen im Gespräch zu überzeugen – die indirekte, ein noch besseres Vorbild und eine noch vollkommenere Autorität zu werden, habe ich immer.


[1] Diese Langfassung unterscheidet sich von der Printversion durch einige Fußnoten und vier längere »Ergänzungen«, auf die jeweils auch im Text hingewiesen wird. Insbesondere versuche ich in Ergänzung 2 der Frage nach der Ursache der offensichtlichen Zunahme der Gewaltbereitschaft nachzugehen. Zum Artikel von Mathias Wais: Bergsteiger waren nie darunter ...

Artikel

[2] Die entsprechenden Textpassagen aus der Schrift: »Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft« von Rudolf Steiner finden sich in Ergänzung 1.

[3] Um nicht missverstanden zu werden: Keiner von uns ist perfekt. Wirksam in der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen ist letztlich unsere Bemühung ein gutes Vorbild bzw. eine rechte Autorität zu werden.

[4] Natürlich gibt es auch die Situation, dass ich dem Kinde zu viel Entscheidungskompetenz zumute und ich es damit überfordere. Das kann z.B. bereits der Fall sein, wenn ich es – im Vertrauen darauf, dass sein natürliches Empfinden ihm »sagt«, was ihm bekommt - frage, was es essen möchte. Das Problem ist ja, dass (auch) der Geschmackssinn eines Kindes auf die Geschmacksverstärker hereinfällt. Es fühlt eben nicht mehr, was ihm guttut. Aber: »Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt« funktioniert natürlich auch nicht, wenn ich Fertiggerichte aus dem Supermarkt hole, und dass der Teller leer gegessen wird, dann eben auch nicht. Wie man sofort sieht, lässt sich das Beispiel in allen Facetten auf viele andere Situationen übertragen: Kleidung, Medien, Musikinstrument üben …

[5] Was hier mit »Störungen« gemeint ist, wird in Ergänzung 2 weiter ausgeführt.

[6] In der Zeitschrift »Die Christengemeinschaft«.

[7] Weitere Aspekte zu diesem »Lernvorgang« in Ergänzung 3

[8] Und wieder gilt natürlich, dass das umso besser gelingt, je bewusster ich selbst mit den nützlichen aber auch verführerischen Knechten umgehe ...

[9] Es würde den Rahmen hier sprengen, diese zugegeben etwas pauschale Zusammenfassung weiter zu differenzieren.

[10] Interessant finde ich, dass meiner Erfahrung nach, das Lesen guter Biografien ein »Ersatz« für reale Begegnungen sein kann. Das gilt viel weniger für Filme! Mit einem Menschen, den ich von außen im Film sehe, kann ich mich viel schlechter identifizieren als mit der Persönlichkeit, die ich als Leser aus der toten Druckerschwärze lebendig werden lasse. Ich führe als Leser diese Persönlichkeit angeleitet durch den Text durch ihr bzw. ein Leben.

[11] Insbesondere sind hier Terrorakte und die verschiedenen Formen von Autoaggression zu nennen.

[12] Ähnlich wie wir A.S. Neill dankbar sein können für seinen Impuls der »antiautoritären Erziehung« müssen wir, meine ich, M.B. Rosenberg dankbar sein für seinen Einsatz für eine »gewaltfreien Kommunikation«. Jeder, der aufmerksam ist auf seine Sprache, wird festgestellt haben, wie viel Gewalt latent in unserer Art zu sprechen anwesend sein kann. Aber mit beidem kann man es eben auch übertreiben.