Waldorf erklärt

Hände und Füße helfen uns, zu denken

Albrecht Schad
Foto: © Charlotte Fischer

Die Knochen des Menschen zeichnen sich durch besondere Festigkeit und Stabilität bei gleichzeitiger Elastizität aus. Sie sind elastisch wie Eichenholz, zeigen eine Zugfestigkeit wie Kupfer, sind bei Druck fester als Muschelkalk oder Sandstein und haben eine statische Biegefestigkeit wie Flussstahl. Vor allem aber sind sie lebendig. Sie können aufgebaut, abgebaut und umgebaut werden, je nach Aktivität oder Passivität. Ein Leben lang. 

Am wenigsten von solchen lebendigen Vorgängen betroffen sind die Knochen des oberen Schädels. Wenn sie einmal gebildet sind, dann sind sie sehr stabil in Gestalt und Struktur. Alle Knochen des Gliedmaßensystems aber, inklusive der Kieferknochen, sind hochplastisch, wie auch die damit in Zusammenhang stehenden Gelenke. Das ist möglich durch die besonders feine Struktur der Enden der Gliedmaßenknochen, die sogenannten Knochenbälkchen (Spongiosa).

Worin drückt sich die besondere Plastizität aus? Spongiosa können je nach Zug- und Druckkräften aufgebaut oder abgebaut werden. Die Struktur der Knochenbälkchen ist also nicht vererbt, sondern wird durch die Eigenaktivität des Menschen individuell gestaltet. Bei körperlicher
Aktivität können Knochenbälkchen neu gebildet, bei Bewegungsmangel jedoch auch abgebaut werden. So bilden sich neu erlernte Bewegungen in der Knochenstruktur ab, ein Leben lang. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der zahntragende Teil der Kieferpartie. Wenn wir alle unsere Zähne verlieren und die Zähne nicht ersetzt werden (was heute selten der Fall ist), dann wird der zahntragende Teil des Kiefers vollständig zurückgebildet. Die Kieferbasis bleibt bestehen. Die Rückbildung des Kiefers wird also nicht lebensbedrohlich, da der Kieferast als Teil des Gesamtorganismus bestehen bleibt.

Obwohl Rechtshänder den rechten Arm deutlich mehr als den linken benutzen, ist es erstaunlich, wie wenig sich beide Arme optisch unterscheiden. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass der Oberarmknochen am körperfernen Ende nur um vier bis sechs Prozent dicker ist. Bei Spitzensportler:innen wie zum Beispiel Tennisprofis, die ihren Sport seit der Kindheit betreiben, kann bei Männern die Dicke des Oberarmknochens um bis zu 45 Prozent zunehmen, bei Frauen bis zu 31 Prozent. Trotzdem sehen Tennisspieler:innen nicht sehr asymmetrisch aus. Das liegt daran, dass das Dickenwachstum vor allem nach innen geht und die Markhöhle des Oberarmknochens verengt. Trotz der sehr einseitigen Beanspruchung und der fast verdoppelten Beanspruchbarkeit, bleibt die optische Symmetrie des Gesamtorganismus erhalten. Im Leben wirkt sich alles auf alles aus, kein Teil ist isoliert. Das Leben strebt offensichtlich harmonische Verhältnisse an.

Der aufrechte Gang ist uns nicht angeboren. Angeboren ist nur, dass wir ihn durch Nachahmung erlernen können. So stellen unsere Gliedmaßen auch nicht eine Anpassung an einen bestimmten Lebensraum dar wie bei den Tieren, sondern sind eine Anpassung an uns selber. Wir passen uns an unser Bedürfnis an, uns aufzurichten. Dementsprechend kommen wir auch nicht mit Gliedmaßen auf die Welt, wie wir sie in der Regel als Erwachsene haben. Das Kind kommt mit O-Beinen und Plattfüßen auf die Welt. Mit etwa anderthalb Jahren begradigen sich die Beine. Oft folgt nun eine Phase mit X-Beinen. Meist erst mit etwa sechs Jahren haben wir uns »gerade« Beine durch die unermüdliche und intensive Aktivität in die Aufrechte erobert. Mit geraden Beinen ist gemeint, dass die Gelenke der Hüfte, des Knies und der oberen Sprunggelenke in der Lotrechten übereinander zu stehen kommen.

Durch den Gebrauch der Gliedmaßen, durch aufrechtes Stehen und Gehen, »erziehen« wir unsere Gliedmaßen dazu, ihre Gestalt so umzuwandeln, dass sie uns so dienen können, wie es dem Menschen gemäß ist. Die Form folgt der Funktion. Es ist also das geistige Wesen des Menschen, das den Leib mitgestalten kann und ihn innerhalb der plastischen Bandbreite durch Aktivität formt.

Haben nun aber Bewegungen, die anders sind als diejenigen, welche wir natürlicherweise ausführen, ebenfalls Auswirkungen auf die Entwicklung der menschlichen Gestalt? Das kann sein: Bei Menschen, die seit frühester Kindheit reiten und bei denen das Reiten gegenüber dem Laufen dominiert, kann dies zum Beispiel zu ausgeprägten O-Beinen führen. Wir kennen das Phänomen etwa bei Cowboys oder bei Jockeys. Ähnliches ist von Fußballspieler:innen bekannt, die den Ball seit der Kindheit über die Innenseite des Fußes spielen. Da die innere Muskulatur des Beines hier stärker benutzt wird als die äußere, führt das zu O-Beinen.

Die Aufrichtung des Menschen hat zur Folge, dass wir uns aus der Bindung an eine bestimmte Umwelt geradezu befreien. Wir sind dadurch ein ganzes Stück autonomer geworden. Autonomie aber ermöglicht nicht nur unsere Kulturfähigkeit, sondern unsere Kulturfähigkeit hat die Autonomie ein Stück weit mit ermöglicht. »Diese Autonomie bedarf aber auch der anfänglichen Kulturfähigkeit des Vormenschen, denn ohne Schutz vor wilden Tieren durch Wälle aus Dornengestrüpp in der Nacht oder durch Waffen ist der Mensch in der Savanne nicht lebensfähig« (Susanna Kümmell 2011, S. 62). Nur durch die kulturelle Lebensweise des Menschen konnte sich das Potenzial der errungenen Autonomien voll entfalten. Aber auch die Tatsache, dass die Menschen vor allem auf ständiger Wanderschaft waren, wird sich positiv auf die Gehirnentwicklung ausgewirkt haben. 

Indem die Aufrichtung des Menschen eine Anpassung an seine eigenen Bedürfnisse ist, haben sich die Aufgaben von Hand und Fuß funktionell getrennt: Die Beine übernehmen im Gang auf zwei Beinen die Laufbewegung, die Hände werden frei und können dem Handeln und Greifen dienen. An diese jeweiligen Funktionen gibt es erhebliche Anpassungen. Durch viele feine evolutive Änderungen ist unsere Hand für die verschiedensten Greifmöglichkeiten ausgelegt. Wir sind spezialisiert auf viele generelle Bewegungen. Die Geschicklichkeit der Hand ist allerdings nicht ererbt, sondern – wie beim aufrechten Gang – Übungssache. Und durch das Üben werden wir nicht nur geschickt, sondern gestalten physisch das Organ mit, so dass es uns jetzt erst richtig dienen kann.

Rudolf Steiner hat schon vor über hundert Jahren die Bedeutung der Gliedmaßen für das Lernen dargestellt. Dies gehört zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik. Seine Erkenntnis wird durch die moderne naturwissenschaftliche Forschung heute breit abgestützt. So schreibt Laura Walk, Sportwissenschaftlerin am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen über den Zusammenhang von Bewegung und Hirnaktivität: »Bewegung formt das Gehirn«. Ein Hirnareal, der Hippocampus, ist dabei besonders wichtig für Lernprozesse. So konnte man nachweisen, dass Bewegung die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus fördert. Durch intensives Klavierspielen zum Beispiel vergrößert sich die Repräsentation der Hand im sensorisch-motorischen Rindenfeld. Bewegung fördert auch die Fähigkeit von Jugendlichen, sich nicht ablenken zu lassen, und die Kreativität wird durch Laufen deutlich unterstützt. Barbara Fenesi schreibt, dass sich Bewegung ganz allgemein positiv auf die physische und seelische Gesundheit von Mittel- und Oberstufenschüler:innen auswirkt. 

Gibt es auch das Umgekehrte? Geht mit einem Abbau von Knochen und einem Mangel an Bewegung der Abbau von Nervenzellen im Gehirn einher? Ja, das gibt es. Der Astronaut Alexander Gerst landete am 20. Dezember 2018 nach 196 Tagen im All wieder in der kasachischen Steppe. Ein Astronaut ist dann kaum in der Lage, selber zu gehen. Ein längerer Aufenthalt in der Schwerelosigkeit führt nicht nur zu extremem Knochenabbau (Osteoporose) und Muskelabbau, sondern auch zum Abbau von grauer Substanz im Gehirn. Die graue Substanz umfasst jene Teile im Gehirn, die überwiegend aus den Zellkörpern der Nervenzellen zusammengesetzt sind. Der Mangel an Bewegung und der Mangel an Schwerkraft führt zu Abbau von Nervensubstanz. Wir brauchen also die Erde nicht nur, um uns mit Hilfe der Knochenbildung aufzurichten, sondern auch für eine gesunde Gehirnentwicklung. Die Bewegung der Gliedmaßen und die Entwicklung des Gehirns hängen offensichtlich zusammen.

Es gibt aber nicht nur eine Intelligenz des Kopfes, die durch Bewegung gefördert werden kann, sondern es gibt auch eine Intelligenz der Hände. Ein eindrucksvolles Beispiel für das, was man unter Handintelligenz verstehen kann, beschreibt der langjährige ehemalige Mannschaftsarzt des Fußballvereins FC Bayern München, Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Er wurde 2016 von dem Sprinter Usain Bolt, den er schon lange betreute, wegen Schmerzen im Oberschenkel angerufen. Bolt befürchtete, bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro nicht weiter mitmachen zu können. Müller-Wohlfahrt flog damals spontan nach Rio und untersuchte Bolt in einem Hotelzimmer, ohne irgendwelche technischen Geräte zur Verfügung zu haben. Es ist sehr interessant, wie er schildert, wie er mit den Fingerspitzen der Hand Schicht für Schicht in die Tiefe tastete und alles, was er wissen musste wahrnahm, ohne es zu sehen. Nach der Behandlung konnte Bolt wieder laufen und gewann dann eine weitere Goldmedaille im 100-Meter-Sprint.

Wir kennen das aber auch aus eigener Erfahrung. Oft wissen wir etwas erst wirklich, wenn wir es anfassen, ertasten können. Unsere frühen Vorfahren haben sich aus Stein Werkzeuge geschlagen. Sie wurden durchaus auch für Rechts- oder für Linkshänder:innen gemacht. Das sieht man den Stücken zwar nicht so einfach an, aber man ertastet es sofort, wenn man sie in der Hand hat. Die Hand »weiß«, was sie ertastet und was sie macht.

»Stricken macht schlau«

Bezieht man die obigen Befunde mit ein, so muss man annehmen, dass durch alle feinmotorischen Handfertigkeiten – zum Beispiel des Handarbeitsunterrichts oder des Werkunterrichts – die Areale von Hand und Fingern im Gehirn vergrößert werden. Wir wissen heute auch, dass sich Fingerspiele positiv auf die Sprachentwicklung auswirken. Hirnregionen, die für die Sprache und die Bewegung der Finger zuständig sind, liegen in räumlicher Nachbarschaft. Die Intelligenz der Hände und der Finger hat auch einen positiven Einfluss auf das Denken. So sagte schon Rudolf Steiner: »Nicht wahr, heute wissen viele Männer wirklich gar nicht, was man für ein gesundes Denken, für eine gesunde Logik hat, wenn man stricken kann.« Der Neurophysiologe Matti Bergström weist darauf hin, dass ein sinnvoller Gebrauch der Finger wichtig für die Entwicklung des geistigen Verstehens ist. Entsprechend können wir annehmen, dass die Entwicklung und Betätigung der menschlichen Hand im Lauf der Evolution ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des Gehirns gewesen sein dürfte. Erst mit der Herstellung der ersten Steinwerkzeuge beginnt sich auch das menschliche Großhirn nennenswert zu vergrößern. 

Wie ist das nun mit der dem Stricken immanenten Intelligenz? Indem wir mit den Fingern Masche an Masche fügen, wird die folgende  Masche äußerlich und innerlich mit der nächsten verknüpft. In der
gesetzmäßigen Verbindung der Maschen durch die feinmotorische Bewegung lebt die Intelligenz der Hände.

Indem die Hände das vormachen, können wir im Denken denselben Vorgang besser vollziehen: in einem sinnvollen Zusammenhang Gedanken miteinander verknüpfen. Das können wir lebenslang üben.

Literaturverzeichnis: Susanna Kümmell: »Aspekte der Gestaltentstehung von Tier und Pflanze in Sichtweisen Goethes.« In: Jahrbuch für Goetheanismus, 2018, S. 71 | Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkt geisteswissenschaftlicher Menschenkenntnis, GA 306, Dornach 1989. | Ders.: Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches, Seminar, Studienausgabe. Rudolf Steiner Verlag, 2019

Wer mehr zum wissenschaftlichen Kontext des Textes erfahren will, kann sich an die Redaktion wenden und eine Version des Artikels mit hilfreichen Quellenangaben erhalten.

Prof. Dr. Albrecht Schad, * 1963, unterrichtet Biologie, Geographie und Chemie an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe. Professur für Didaktik der Naturwissenschaften an der Freien Hochschule Stuttgart. Forschungsreisen nach Australien und Afrika.

schad@freie-hochschule-stuttgart.de

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