»Halt deinen Mund! Dich hat niemand gefragt!«

Henning Köhler

»Regelmäßige, über einen langen Zeitraum sich hinziehende, massive, aggressive Eingriffe in das Leben und Handeln eines anderen Menschen« (Schallenberg) bezeichnet man als »Mobbing«. Die Gewalt geht zumeist von Gruppen aus und richtet sich gegen Einzelpersonen. Körperliche Attacken können, müssen aber nicht dazugehören. Neben Bedrohung und offener Bloßstellung gelten als typische Mobbinghandlungen: einem Menschen häufig das Wort zu verbieten, ihn zu ignorieren, auszugrenzen, mit sinnlosen Arbeitsaufträgen zu demütigen, hinter seinem Rücken schlecht über ihn zu reden, zu kolportieren, er sei psychisch krank (Leymann). Mobbing ist sehr verbreitet, vor allem in der Arbeitswelt. Erwachsene mobben mehr und gnadenloser als Kinder, das vergisst man gern.

Die traurige Normalität des Mobbings gegen Kinder unter dem Vorwand pädagogischer Notwendigkeiten steht bezeichnenderweise kaum zur Debatte. Das ist ein heikler Punkt, ich weiß. Es handelt sich bei den Tätern selten um bösartige Menschen. Sie sind einfach nur am Ende ihres Lateins. Aber das ändert ja nichts am Sachverhalt.

Vor allem wenn Kinder als problematisch wahrgenommen werden, macht sich ihnen gegenüber oft ein Verhalten der Erwachsenen geltend, welches die Mobbing-Kriterien objektiv erfüllt. Kürzlich lernte ich einen zehnjährigen Jungen kennen – nennen wir ihn Manuel –, der Zurechtweisungen wie »Halt deinen Mund!« oder »Dich hat niemand gefragt!« so oft hört, dass er sie schon antizipierend vor sich hin murmelt, auch bei unpassenden Gelegenheiten. Mehrfach wurde ihm vor versammelter Klasse attestiert, seine Anwesenheit sei für alle eine Belastung. Die meisten Schulstunden verbringt er teilweise vor der Tür. Strafarbeit folgt auf Strafarbeit. Niemand hat eine positive Meinung von ihm. Manuel steht unter weitaus schärferer Beobachtung als die anderen Kinder und entkommt der argwöhnischen Dauerüberwachung auch zu Hause nicht. Wie hinter seinem Rücken über ihn geredet wird, ist haarsträubend. Und natürlich steht die Verdachtsdiagnose ADHS im Raum.

»Ist Kindern gegenüber pädagogisch wertvoll, was in der Arbeitswelt von Erwachsenen Mobbing [wäre]?« (Klingikt). Vergessen wir nie: Kinder sind Lernende. In jeder Hinsicht. Sie ahmen die sozialen Verhaltensmuster, besser noch: Haltungen der Erwachsenen auf allerfeinste Art nach, allerdings, wie Rudolf Steiner betonte, mit einer angeborenen »Sympathie für das Gute«. Daher fängt alle pädagogische Mobbing-Prävention damit an, dass sich Eltern, Erzieher und Lehrer sehr genau und sehr ehrlich prüfen, ob sie nicht selbst allzu bereit sind, mobbingartige Konstellationen zu bedienen – oder gar treibende Kräfte bei ihrer Entstehung zu sein. Es muss andere Lösungen geben! Damit wir nicht ständig »genau das tun, was verhindert werden soll« (Klingikt).

Literatur:

Frank Schallenberg: Ernstfall Kindermobbing, München 2004 | Heinz Leymann: Inventory of Psychological Terror, Tübingen 1996, http://www.mobbing-zentrale.ch/wastun.htm | Franziska Klingikt: Mobbing – nur ein Missverständnis? In: unerzogen 3/12