Bevor die Autoren in die menschenkundlichen Grundlagen einsteigen, führen sie die Lesenden hin zu den Stufen des diagnostischen Prozesses. Theoriegeleitetes Verstehen und Unterstützen hat vorbehaltslose Offenheit der (Heil-)Pädagogen unter Einbeziehung der Eltern zum Ausgangspunkt. Ihre phänomenologische Betrachtungsweise »befragt« die Symptome und Äußerungen eines Menschen und lässt sie sprechen. Zu diesem »Befragen« kommt die dialogische Haltung echten Interesses: Wer bist du, was ist deine aktuelle Entwicklungsaufgabe und was können Hilfen sein?
Der diagnostische Prozess pendelt zwischen analytischen und synthetischen Momenten: Um die Fülle der Einzelwahrnehmungen zu einem Gesamtbild zu bringen, braucht es eine Art künstlerischer Aktivität, das Finden eines Ganzen, eines inneren Bildes.
Es ist ein Schatz für die praktische, heilpädagogisch-menschenkundliche Arbeit: Verstehen, Interpretieren, Diagnostizieren sind die Aufgaben, die die Autoren zu den verschiedenen Gebieten – Wesensglieder, Sinne, Konstitutions-Bilder – auflisten. Diese Fragen geben konkrete Hinweise auf Blickrichtungen, die eingenommen werden können, um zu Aussagen über das Befinden des einzelnen Kindes oder Jugendlichen zu kommen. Nicht in Ursache-Wirkung-Schemata wird gedacht, sondern die je besonderen Merkmale werden mit Erklärungsmodellen aus der Menschenkunde überprüft, in einen individuellen Zusammenhang gestellt und gewichtet.
Weitere Reichtümer dieses Buches sind die Praxisbeispiele und die Zitate, die den meisten Kapiteln vorangestellt sind. Es gibt Kapitel – Biografie, Anamnesegespräch, Diagnostik für erwachsene Menschen mit Behinderung –, da wünscht man sich Ausführlicheres.
Während des Lesens meint man die Autoren zu »hören«, wie sie Fachleute und Eltern begleiten. Man fühlt sich an die Hand und ernst genommen in der fragenden, manchmal verzweifelten Suche nach dem Verstehen von Kindern, insbesondere von solchen mit herausforderndem Verhalten.
Das Buch vermittelt vor allem eines: Haltung. Haltung, die auf warme, mitmenschlich-interessierte Weise den theoriegeleiteten Verstehens- und Unterstützungsprozess immer wieder neu gestaltet. Ein empfehlenswertes Buch für Heilpädagogen, Pädagogen und interessierte Eltern.
Erika Schöffmann und Dieter Schulz: Wege zum Anderen. Facetten heilpädagogischer Diagnostik auf anthroposophischer Grundlage, kart., 155 S., EUR 15,–, Mayer/Info3, Frankfurt 2015