Hand und Kopf

Henning Kullak-Ublick

»Wie ist doch so ein heller Kopf, bedenkt man’s recht, fürwahr ein Tropf:
Er isst, er trinkt, hat was zu sagen – doch will er fort, lässt er sich tragen …«

(aus einem Zeugnisspruch für einen Viertklässler)

Was ist denn das für eine Pädagogik, die den Kopf kurzerhand zum Parasiten erklärt? Wir wissen inzwischen doch so viel über seine neuronalen Bewohner, die Synapsen, ihre Wohnungen und Spiegel, dass wir uns geradezu beim Denken zugucken können. Die Hirnforscher haben das Zentralorgan unseres bewussten Lebens mit Hilfe bildschaffender Methoden so detailliert erforscht, dass manche Menschen gleich die ganze Seele ins Gehirn verlagern möchten. Auch der Autor dieser Zeilen bewundert die Offenbarungen dieser modernen Hohepriester. Aber der immer genauere Blick ins Innere des Gehirns wirft einmal mehr die uralte Frage nach dem Menschen selber auf: Nicht wenige Zeitgenossen glauben (sie würden wohl sagen: wissen) heute, dass es uns eigentlich gar nicht gibt, sondern dass sich das atemberaubende bio-elektrische Feuerwerk in unserem Gehirn seine Existenz als reales »Ich« nur einbildet. Ein herrlicher logischer Widerspruch übrigens, denn wer das sagt, tut das als jemand, der von sich weiß. Wenn’s den aber gar nicht gibt …?

Man kann keine Pädagogik betreiben, ohne sich dieser Frage mit einer gewissen Radikalität zu stellen. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man als Lehrer versucht, den Kindern dabei zu helfen, ihre einzigartige geistige Individualität mit ihrer leiblichen Existenz behutsam in Deckung zu bringen, damit sie als freie Menschen handeln können – oder ob man davon überzeugt ist, in einer Matrix zu leben, deren Code mit der Materie untergeht, von der sie programmiert wurde. Es steht jedem Menschen frei, so oder so zu denken, aber für das pädagogische Selbstverständnis eines Lehrers ist diese Frage entscheidend, weil sie die eigentliche Freiheitsfrage ist.

1911 hatte noch niemand etwas von »Spiegelneuronen« gehört. Damals sprach Rudolf Steiner bei einem Philosophenkongress in Bologna über den menschlichen Leib, den er als »Spiegelungsapparat« für das im Umkreis wirkende »Ich« beschrieb. Die Seele wirke nicht vom Gehirn aus in die Welt hinein, aber sie nutze dieses Wunderwerk, um von sich selbst und der Welt ein gegenständliches Bewusstsein zu entwickeln.

Der Kopf schafft Bewusstsein, aber die Beziehung zur Welt entsteht durch Tätigkeit. Geschicklichkeit entsteht zuerst durch Üben und dann erst durch Reflexion. Bestünden wir nur aus unserem Kopf, wären wir tatsächlich Parasiten, die alles sehen, hören oder wissen, aber die Welt nur abbilden, statt in ihr zu wirken. Zum Wirken brauchen wir nicht nur den Kopf, sondern unsere Hände und Beine und deshalb braucht der handelnde und schöpferische Mensch in der Erziehung die gleiche Aufmerksamkeit wie der spiegelnd-reflektierende. Dann erst bekommt das Wort »ganzheitlich« einen Sinn. Der Zeugnisspruch fährt fort: »Drum muss der Mensch die Hände regen, will er der Welt auch etwas geben.«

Henning Kullak-Ublick, von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)