Die Kunst im Praktischen. Handarbeitsunterricht in der Waldorfschule

Anette Sigler

Handarbeitsunterricht ist aber nicht nur das Training der Feinmotorik, Konzentration und Willenskraft – das sind zwar wichtige und erwünschte Nebeneffekte, wie sie sich beispielsweise auch beim Erlernen eines Instrumentes einstellen –, doch werden Kinder kaum freiwillig weiterhin zum Instrumentalunterricht gehen, wenn sie beim Üben nicht wenigstens ein bisschen Genuss empfinden können. So wie es hier in erster Linie um die Musik und das Musikmachen geht, so beim Handarbeiten um das Selbermachen und Selberschaffen, um genießerische Freude am Tun und ästhetischen Erleben. Handarbeit ist also ein schöpferisches Unterrichtsfach mit künstlerischer Note. Insofern trifft der Name »Textiles Gestalten« auch einen wichtigen Aspekt.

Schon bei der Gründung der Waldorfschule 1919 wurde die künstlerische Gestaltung der Werkstücke als konstituierend angesehen und die ersten Handarbeitslehrerinnen in diesem Sinne bewusst ausgesucht: Nicht Schneiderinnen oder erfahrene Lehrmeisterinnen einer höheren Töchter-Schule sollten es sein, sondern handarbeitsbegabte Künstlerinnen! Das war – neben dem damals revolutionären Anliegen, auch Jungen diesen Unterricht angedeihen zu lassen – eine avantgardistische Entscheidung. Textile Handarbeit wurde bis dahin im Bürgertum zwar in heute kaum vorstellbarer Feinheit und Ordentlichkeit ausgeführt, erschöpfte sich aber zumeist im Nacharbeiten von tradierten oder gekauften Mustern: Zig Mal wurde zum Beispiel das immer gleiche Schablonen-Monogramm auf die Aussteuerstücke gestickt. In weniger begüterten Kreisen wie der Arbeiterschaft der Waldorf-Astoria diente das häusliche Handarbeiten vor allem lebenspraktisch der Herstellung oder Reparatur von Kleidung und Alltagsgegenständen.

Alles zu gebrauchen!

Wie bildend der Handarbeitsunterricht in Bezug auf Ästhetik und Sinneswahrnehmung ist, merken die Schüler zunächst natürlich nicht. Was aber schon die Kinder in den ersten Klassen schnell schätzen lernen, ist, dass sie Dinge im Unterricht machen, die sie gebrauchen können. »Was möchtest du dir gerne häkeln, was brauchst du?«, frage ich die Jungen und Mädchen der zweiten Klasse, und so entstehen Taschenmesserhüllen, Gürtel, Umhängetaschen, Basketballkorbnetze, Portemonnaies und vieles mehr. Auch an diesem schöpferischen Zug liegt es, dass Kinder und auch noch viele Jugendliche den Handarbeitsunterricht lieben: »Wann haben wir wieder Hand­arbeit?«, fragt der neunjährige Benjamin am Stundenende. »Am Donnerstag.« – »Waas? Erst am Donnerstag?« Ich versuche, zu beruhigen: »Sind doch nur drei Tage.« Mit großer Inbrunst kommt die Antwort: »Aber in der Handarbeit sind Tage Jahre!«

Schaut her, was ich kann!

Wir stellen grundsätzlich nur Dinge her, die man gebrauchen kann. Die Betonung liegt aber auf »ge«brauchen, denn wirklich »brauchen« dürften die Kinder der dritten Klasse heute eine selbst gefertigte Mütze nicht, da sie vermutlich schon mehrere gekaufte Exemplare besitzen. Aber fast alle stricken oder häkeln gerne an diesem Kleidungsstück, denn sie freuen sich darauf, eine selbst gemachte Mütze tragen zu können! Mit Stolz kleiden sie sich mit ihr dann den ganzen Winter und ziehen sie auch im geheizten Klassenzimmer oft nicht aus. Manche tragen sie in der ersten Zeit nach der Fertigstellung sogar im Bett. Verwandte und Freunde sprechen sie bewundernd an auf den sichtbaren Beweis dessen, was sie gelernt und gearbeitet haben. Ein-mal-eins-Reihen lassen sich nicht auf dieselbe Art und Weise tragen! Es ist wirklich etwas Greifbares quasi aus dem »Nichts« des langen Fadens entstanden, etwas selbst Geschöpftes, Einmaliges, das nicht mal eben weggeworfen wird, das auch in der Erwachsenenwelt bestehen kann und als sinnvoll angesehen wird. Und es wurde gestrickt oder gehäkelt, also eine Handtechnik ausgeführt, die man erst lernen musste und von der man jetzt weiß, was man mit ihr alles schaffen kann.
Würdige Geschenke können nun hergestellt werden: »Meine Schwester wird eingeschult. Kann ich für sie eine Stiftetasche machen?«

Ein Blick hinter die Dinge

Kinder wollen lernen, wie »etwas geht«, und genau das finden sie im Handarbeitsunterricht. Sie erobern sich so einen zunehmend selbstbewussten Standpunkt, von dem aus sie immer sicherer sagen können, wie die Welt der Dinge eigentlich zusammenhängt. Auf einmal wird erkannt, wie eine bestimmte Jacke genäht ist. Der Blick schweift zu meinem Pullover: »Hast du dir den selbst gestrickt?« Ohne diesen Lernwillen wäre Schule sowieso chancenlos, das ist beim Schreiben- und Lesen-Lernen ja nicht anders. Besonders intensiv ist das Lernen-Wollen in der ersten Klasse zu merken, wenn eine Gruppe von 17 Sechsjährigen das Stricken angeht. Werden es alle schaffen? Und jedes Mal ist festzustellen: Ja, alle haben es gelernt – weil sie es lernen wollten! So bildet sich über die vielen Handarbeitsschuljahre eine nicht unbeträchtliche Erfahrung auf dieser sehr konkreten, praktischen Lebensebene aus. Was dabei geübt wird, lässt sich auf ganz andere Lebensbereiche übertragen – die Bildungsmöglichkeiten des Handarbeitsunterrichtes reichen bis in die Sphäre der politischen Urteilsbildung im Jugend- und Erwachsenenalter: Wer eine stabile Naht nähen will, die gleichzeitig filigran und elastisch ist, muss nicht nur sehr geschickt mit der Nähnadel umgehen, sondern auch genau hingucken. Wer gelernt hat, genau hinzuschauen, kann sich in dem Wust von Nachrichten und Meinungen besser orientieren.

Viele Techniken – viele Erfahrungsmöglichkeiten

Damit die Kinder und Jugendlichen ihre Fähigkeiten vielfältig entwickeln können, ist das Unterrichtsangebot an verschiedenen Handarbeitstechniken groß. Über die ersten zehn Schuljahre nähen, sticken, stricken und häkeln wir; wir flechten, knoten, knüpfen, waschen und kämmen Rohwolle und spinnen sie zum Faden, färben Wolle, weben und färben, bedrucken, batiken und bemalen Stoffe, verarbeiten Leder, lernen den Umgang mit der Nähmaschine und vielleicht sogar noch Vieles mehr – je nach Schule und Lehrern. Jede Technik stellt spezifische Entwicklungsaufgaben und wird daher je nach Lebens­alter und Bedürfnissen ausgewählt. Handarbeitsunterricht besitzt zudem ein hohes Potenzial zur Binnendifferen­zierung, es ist also leicht möglich, die Anforderungsniveaus der verschiedenen Tätigkeiten so zu variieren, dass jedes Kind mitmachen und in seiner Entwicklung gefördert werden kann. Manche Jungen und Mädchen verschlingen ein Angebot nach dem anderen und greifen auch zuhause zur Handarbeit, andere üben immer wieder die Grundtechniken. Und alle halten schließlich ihr fertiges Werkstück in den Händen, vielleicht ganz verschieden hergestellt, aber – wenn irgend möglich – in einem künstlerischen Prozess entstanden.

Kunst beim Handarbeiten?

Und was meint das nun – künstlerisches Handarbeiten? Eben nicht die Reproduktion, also keine Werkstücke von der Stange. Das ist von Anfang an möglich: Schon gleich in den ersten Unterrichtsstunden der ersten Klasse können kleine Arbeiten individuell gestaltet werden, zum Beispiel textile Namensschilder für den Handarbeits- oder Eurythmieschuhbeutel. Dazu wird ein Stück Stoff angemalt und bestickt und die ganze Arbeit in einen Zusammenhang von Geschichten, Reimen und Liedern gestellt. Wenn dann ein Kind sein Schildchen zeigt und zu bemerken ist, dass ihm jeder einzelne Stich wichtig und bedeutungsvoll ist und das Entstandene auf diese Weise zu ihm spricht, dann ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem intensiv empfundenen Gestalten getan. Meine Aufgabe als Lehrerin verstehe ich dabei so, einen Aufgabenrahmen zu finden, in dem Entfaltung möglich ist. Die Aufgabenstellung muss Potenzial haben, zur Improvisation einladen und ergebnisoffen sein. Es gibt möglichst keine einengenden Ausführungs­regeln und keinen Erwartungshorizont, außer dem, dass die Gestaltung zum Werkstück »passen« soll. Was passt, kann dabei von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe, von Gruppe zu Gruppe und selbstverständlich auch von Schüler zu Schüler verschieden sein, genauso, wie es von der Art des Werkstücks, von Material und Farbpalette abhängig ist.

Ein Beispiel aus der 8. Jahrgangsstufe: Hier lernen die Schüler an vielen Waldorfschulen den Umgang mit der Nähmaschine. Sieben Jahre lang haben sie alle Nähte mit der Hand ausgeführt und nun lassen sie sich dabei von der Maschine unterstützen. Da kann man schon mal in einen Geschwindigkeitsrausch kommen! Sobald das Geradeausnähen einigermaßen gelingt, werden eigene Ideen für Gebrauchsgegenstände umgesetzt. Der ausgewählte Stoff wird zugeschnitten und nun – das ist die einzige Vorgabe – so gestaltet, dass die Gestaltung mit dem herzustellenden Gebrauchsgegenstand funktional oder atmosphärisch korrespondiert. Er kann bemalt oder bedruckt oder in Reservetechniken wie Batik oder Shibori gefärbt werden. Die Jugendlichen müssen sich also klar darüber werden, welcher Stoff­bereich beim Endprodukt wo sitzt und ob sie diesen heller oder dunkler, in kälteren oder wärmeren Farbtönen, wild oder ruhig bemustert haben möchten.
Bei einem Kulturbeutel kann zum Beispiel der Boden anders eingefärbt werden als die Seitenteile, Öffnungen an der Reißverschlussseite können betont werden. Die vielen Möglichkeiten beflügeln die Phantasie der Jugendlichen. Es entwickelt sich jedes Mal eine erstaunliche Vielfalt an Gestaltungsinterpretationen für Gebrauchsgegenstände. Und es liegt in der Natur der Sache, dass nicht zwei Mal dasselbe Werkstück entsteht.

Der Unterricht soll der Phantasie Raum geben

Als Lehrerin ist man stets auf der Suche: nicht nur nach weiteren passenden Handarbeitstechniken für eine bestimmte Jahrgangsstufe, sondern auch nach Materialien und Werkstücken, die noch mehr kreativen Spielraum zulassen und der Phantasie noch mehr Nahrung geben. Lassen sich zum Beispiel Stoffe und Garne finden, die erlauben, von den Kindern selbst eingefärbt zu werden? Dabei kann es sinnvoll sein, die mancherorts entstandenen Traditionen zu durchbrechen und Neues auszuprobieren. Nicht jedes Kind muss in einer bestimmten Jahrgangs­stufe eine ganz bestimmte Technik gelernt oder ein ganz bestimmtes Werkstück hergestellt haben. Das würde in eine pädagogische Enge führen, die der Waldorfschule und ihren Gründungsimpulsen zuwiderliefe. Vielmehr lassen waldorfpädagogische Überlegungen zu den jeweiligen Lebensaltern viele Tätigkeitsvariationen zu, die zu neuen, aktuellen Material- und Werkstückideen führen.

Es ist dieser künstlerisch aufgefasste und immer wieder neu gegriffene Handarbeitsunterricht, der Offenheit entstehen lässt: zum einen die direkt spürbare Offenheit im Unterricht für die Gegenwart und Bedürfnisse der Schüler, zum anderen und längerfristig gesehen die charakterliche Offenheit und Toleranz als seelische Weite der zukünftigen Persönlichkeit. Denken in Schemata und Wieder­holen von Schablonen wird einen solchen Menschen kaum interessieren. Auch Handarbeit trägt so im Kanon der verschiedenen Schulbemühungen zu einer freiheitlichen Gesellschaft sich selbst führender und schöpferischer Individuen bei.

Zur Autorin: Anette Sigler ist Handarbeitslehrerin an der Freien Waldorfschule Kassel und leitet den Ausbildungsgang Handarbeit am dortigen Lehrerseminar.