Handwerk als Wahlfach – verborgene Bildung

Rainer Christian Hardorp

Als die Menschen vor langen Zeiten auf die Jagd gingen, trugen sie Wurfspeere zum Erlegen des Wildes bei sich. Diese mussten bestimmte Flugeigenschaften aufweisen, um das Tier tödlich treffen zu können: Spitze und Schaft mussten die gleiche Fluglinie einhalten. Dies setzt eine bestimmte Gewichtsverteilung voraus. Die Speerspitze musste mit großem Geschick aus Stein angefertigt werden und kunstvoll im Schaft mit Harzen verklebt und verschnürt sein. Dies geschah schon in der Steinzeit vor Jahrzehntausenden.

Das in der Entwicklung dieser und anderer Techniken erworbene handwerkliche Denken förderte im Menschen die Fähigkeit zur kulturellen Evolution, zum Städtebau und zur Wissenschaft.

Charakteristisch ist, dass sich diese kulturellen Potenziale stets anwendungsorientiert entwickelten. Das heißt, aus einem Zustand der Unzufriedenheit entwickelte sich eine Fragestellung und man begann nachzudenken: Aus einem Problem heraus entwickelte sich durch Denken und Erproben ein Weg zur Lösung.

Dies ist der handwerkliche Weg. Er führt vom Speer zum Hausbau, vom Pflug zur Getreidezucht, vom Nachdenken über die Gemeinschaft zur Philosophie. All dies ist Bildung, und Bildung ist Wissen, das Bedeutung hat. Auch handwerkliches Denken und Tun im heutigen Zusammenhang ist stets auf die Lösung eines Problems ausgerichtet, das Bedeutung hat. Es erfordert Beweglichkeit in der Vorstellungskraft und Präzision der Gedanken, denn falsch Gedachtes lässt sich nicht schönreden, wenn das Dach eingestürzt ist. So fördert das Handwerk das wirklichkeitsbezogene Denken.

Beim Lösen einer Konstruktionsaufgabe auch einfacher Art entsteht ein Lerneffekt. Das Lernen findet während des Arbeitsprozesses statt. Es muss dabei nichts auswendig gelernt werden, wie im Falle von Formeln oder Geschichtsdaten. Es muss Wissen erworben werden über Werkstoffe und Verfahren! Dieses Wissen ist aber fast immer eingebunden in einen praktischen Prozess, der auch durch die Sinne mitvollzogen wird, sodass zusätzliche Informationen – beispielsweise über Legierungen oder Verleimtechniken – in dieses sinnlich erfahrene Erlebnis-Wissen leicht integriert werden können. Auch das ist ein Bildungsweg.

Verborgene Bildungsgesichtspunkte

Die Frage taucht auf: Ist es in unserer Gegenwart, die mehr und mehr von den Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung erfasst wird, noch sinnvoll, sich eingehend mit den Materialien und deren Eigenschaften zu befassen? Digital gesteuerte Bearbeitung setzt die physikalischen Eigenschaften der Materialien nicht außer Kraft. Ein Entwickler von Bearbeitungsprogrammen muss materialgerecht programmieren. Ein Nutzer der Programme ist ebenso gefordert, denn er muss die Steuerung materialbezogen einsetzen. Beide müssen die Werkstoffe kennen. Dies erlernt man nur mit der Hand und den Sinnen.

Im Zentrum des an der Mannheimer Waldorfschule entwickelten Handwerkskonzeptes steht als Bildungsziel das Erlangen von Handlungskompetenz und Entscheidungsfähigkeit. Der Konzeption dieses Modells lag die Absicht zugrunde, die im handwerklichen Tun verborgenen Bildungsgesichtspunkte zu entdecken, weiter zu entwickeln und sie in eine schlüssige Form zu bringen. Hier ein Denkansatz:

Stellt man sich eine geometrische Form innerlich vor, etwa eine Spirale, so kann man beim Hervorrufen der Erinnerung bemerken, dass man die Form nicht als fertige Vorstellung abrufbereit im Gedächtnis gespeichert hat, sondern sie mit Merkmalen – groß oder klein, rechts- oder linksdrehend, eng oder weit gewickelt usw. – in der Vorstellung neu aufbaut. Dazu aktiviert man den Eigenbewegungssinn, mit dessen Hilfe man die Form fast so nachvollzieht, als täte man es durch Laufen oder durch Zeichnen an einer Tafel. Gelingt der Prozess des innerlichen Abbildens nicht gleich, fühlt man das Verlangen, durch eine geeignete Körperbewegung der Vorstellungskraft nachzuhelfen. Dies befähigt mich schließlich, die Form zu denken.

Bezogen auf das handwerkliche Tun kann man daran erkennen, dass eine viel geübte Bewegung zur Verinnerlichung des Formprinzips dieser Bewegung führt. Schüler eignen sich also beispielsweise die Idee der Ebene ganz an, indem sie durch das Hobeln oder Feilen diese in ihrem Bewegungsorganismus verankern.

Im Zusammenhang damit steht die Schulung der Vorstellungskraft und des räumlichen Denkens. Denn der Schüler tut ja nicht nur mechanisch etwas, sondern er muss ständig kontrollieren, ob er mit seiner Bewegung auch das erreicht, was gefordert ist. Dazu muss er sich klar machen, an welcher Stelle er wie viel wegnehmen will oder wie ein Teil in das andere hineinpassen soll. Ohne eine vor dem Arbeitsbeginn gewonnene Klarheit über die dreidimensionalen Verhältnisse des zu fertigenden Werkstückes wird die Arbeit scheitern.

Während er diese Dinge tut, wird er oft an seine Grenzen stoßen. Wahrscheinlich gelingt etwas nicht wie geplant. Dies ist natürlich ein enttäuschendes Erlebnis, aber durch den später dann doch sichtbar werdenden Erfolg kann er auch seine wachsenden Fähigkeiten erleben, was ihn in die Lage versetzt, Vertrauen in seinen Willen und seine Durchhaltekraft zu gewinnen.

Aber warum hat etwas nicht geklappt? Die Konfrontation mit Misserfolgen kann zur Selbstreflexion führen: War ich nicht bei der Sache? Habe ich das falsche Werkzeug benutzt oder war es das richtige, aber nicht in Ordnung? Habe ich das Material falsch behandelt, vielleicht nicht den Faserverlauf beachtet? War ich zu grob oder hätte ich mehr Kraft aufwenden müssen? Habe ich auf die Geräusche geachtet? Dieses Kreischen des Bohrers hätte mich eigentlich aufmerksam machen müssen! – Ein feines Gefühl für Geräusche, Vibrationen, aufgewendete Kraft oder Schwung muss erworben werden.

Die Auseinandersetzung mit Materialien erfordert vom Schüler eine Vertiefung der Wahrnehmung. Gibt er sich der Wahrnehmung ganz hin, wird er an den Punkt kommen, an dem sein Blick auf ihn selbst zurückfällt. Er muss das Erlebte auf sich beziehen, denn er selbst ist der Verursacher des Geschehens. Er muss sich darüber klar werden: Ich habe das getan, ich trage die Verantwortung, ich muss es besser machen. Die bekannte Aussage: »Es geht nicht«, muss verwandelt werden in die Erkenntnis: »Ich kann es (noch) nicht.«

Die nach außen gerichtete Wahrnehmung wendet sich in diesem Prozess nach innen, der Schüler lernt, sowohl seine eigenen Mängel zu beobachten, als auch das Gelungene als Folge seines Könnens zu erkennen. Dies ist ein Vorgang der Selbstwahrnehmung. Diese wiederum bewirkt eine Stärkung der Selbstkontrolle.

Die Chancen des Handwerksunterrichts, ob nun mit Holz, Metall oder Stoff können dann zum Tragen kommen, wenn die verantwortliche Lehrkraft der Möglichkeit Raum gibt, ein vom Schüler »selbst gesteuertes Lernen« zuzulassen, ihm gestattet, es zu erproben. Der Schüler muss also nach eigenen Wegen suchen dürfen, denn unter einem starren, keine Initiative zulassenden Unterweisungsstil alter Art können die beschriebenen Wirkungen nicht eintreten. Ja, es entsteht sogar eine Schulung in verkehrter Richtung, nämlich zur Abhängigkeit von Unterweisung, zu einem Denken, das vor Selbstständigkeit zurückschreckt und damit in die Falle tappt, Fehler stets auf Vorgesetzte oder »die Umstände« zu projizieren, anstatt sie in bessere Handlungskompetenz zu verwandeln.

Vertrauen in die eigene Arbeit gewinnen

Ziel eines jeden Handwerksbereichs ist es, in den Schülern die Fähigkeit entstehen zu lassen, bewusst und kompetent mit den Entscheidungen umzugehen, die sie im Leben treffen müssen. Dazu gehört auch eine berufsbiografische Handlungsfähigkeit, die sie in jedem später angestrebten Beruf umsetzen können, ob im Handwerk, der Kunst, im sozialen Bereich oder anderswo.

Die Erfahrung, die den jungen Leuten von uns Lehrern vermittelt werden soll, ist die Sicherheit: Ich habe meine Projekte, sei es ein Schrank, ein Fahrrad oder ein selbst entworfenes Kleidungsstück mit Unterstützung, aber selbstverantwortlich und mit Erfolg vollendet. Ich konnte dies lernen. Wenn ich später in einem anderen Beruf tätig sein werde, werde ich dies ebenso können, denn ich traue mir zu, zu lernen, wenn ich mich darum bemühe. Und ich weiß, dass ich es kann.

Zum Autor: Rainer Christian Hardorp ist Lehrer für Handwerk an der Freien Waldorfschule Mannheim.