Waldorf erklärt

Handwerk und Praktisches Arbeiten in der Waldorfschule

Holger König
Noch (fast) nichts wissen, aber alles können – diese wunderbare, das Selbstbewusstsein stärkende Erfahrung machen die Drittklässler:innen während der Hausbauepoche. Foto: © Beatrice Vohler

Das Internet hat es möglich gemacht, in jeder Lebenssituation, praktisch per Knopfdruck, für ein Wissensproblem eine Lösung oder zumindest einen Vorschlag zu erhalten. Suchmaschinen, Datenbanken, Plattformen und Portale für alle Fragestellungen und Lebenslagen geben uns schnell und nahezu mühelos das Gefühl, »kundig« zu sein. Diese Form des Weltbegreifens spiegelt sich auch in der immer stärkeren Entwicklung der Lehrinhalte staatlicher Bildungsstätten hin zu einer abstrakten Wissensvermittlung mit Betonung der abfragbaren und bewertbaren Wissensinhalte wider. Der Anstieg der Zahl der Abiturient:innen und Hochschulabsolvent:innen scheint den Erfolg dieser Ausbildungsmethode zu bestätigen. 

Die »ausgeliehene« Fähigkeit und die daraus erzeugte Souveränität des oder der Einzelnen tragen so lange, bis die eigenständige Tat, eine nachvollziehbare, selbst erbrachte Leistung, abverlangt wird – ohne die Hilfe der Ratgeber. Möglicherweise war sich Goethe als Künstler, der die »Gebildeten« ansprach, der Brüchigkeit der intellektuellen Bildung bewusst, als er formulierte: »Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muss das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird. Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.«

Nachdem Rudolf Steiner am 23. April 1919 einen Vortrag in Stuttgart über die Ungerechtigkeit des dreigliedrigen Schulsystems gehalten hatte, wurde er von dem Fabrikanten Emil Molt gebeten, eine Schule zu errichten und zu leiten, die in zehn Schuljahren eine praktische und theoretische »Lebenskunde« vermitteln und sie in praktischen Schulwerkstätten zur Anwendung bringen sollte. Das war die Geburtsstunde der »Waldorf-Einheitsschule der Zukunft«. Sie sollte jeden Jugendlichen unabhängig vom sozialen Status so fördern, dass er oder sie sich die Frage beantworten konnte: »Was bin ich als Mensch?«. Das Werkzeug hierfür sollte die Würdigung der (körperlichen) Arbeit sein, ausgedrückt in der Devise: »Ich will lernen, ich will arbeiten.« Denn Lernen an der Arbeit ist eine Grundlage der individuellen Freiheitsentwicklung.

Der Lehrplan der Waldorfschulen ist bis heute stark geprägt von dieser »Arbeitsidee«. Sie beginnt mit dem Erlernen von Häkeln, Stricken und Sticken ab der zweiten Klasse und setzt sich im dritten Schuljahr mit der Ackerbauepoche (säen, ernten, dreschen, mahlen, backen) und der Bauepoche (mauern, sägen, stemmen, nageln) fort. Die künstlerisch-praktischen Inhalte werden in der sechsten Klasse mit dem Nähen fortgeführt und schließlich um Gartenbau und Holzwerkstatt erweitert. Den Abschluss der Unter- und Mittelstufe bildet die selbst gewählte und eigenständig erbrachte Achtklassarbeit. 

Das Praktische in der Oberstufe folgt einer sinnvollen Choreographie: In der neunten Klasse hilft die ganze Klasse im Rahmen eines zweiwöchigen Landwirtschaftspraktikums auf einem Bauernhof. In der zehnten Klasse werden die Kenntnisse der Trigonometrie in Kleingruppen bei einem Feldmesspraktikum angewendet. In der elften Klasse sind die Jugendlichen im Rahmen eines Sozialpraktikums allein in einer selbst ausgewählten sozialen Einrichtung tätig, zum Beispiel in einem Altenheim oder Kindergarten.

Als unsere Waldorfschule in Gröbenzell in den 1980er Jahren gegründet wurde, war ihr besonderes Profil die Professionalisierung der handwerklichen Tätigkeit durch die Gründung des sogenannten »Handwerkerhofes«. Hier sollte ab dem neunten Schuljahr die handwerkliche Realität neben die Wissensinhalte des Unterrichts treten. Ziel war ein eigenständiger Handwerksabschluss in Form des Gesellenbriefes. Das Experiment wurde nach zwei Jahren mit Abschluss eines Forschungsvorhabens beendet, da das bayerische Kultusministerium eine derartige Schulform kategorisch ablehnte. Entweder Berufsschule oder Gymnasium, lautete die Begründung. Auch die beiden anderen damals existierenden Münchner Waldorfschulen betrachteten die Betonung des Handwerks neben der »gymnasialen Bildung« kritisch. So ernst hatte man Steiner nicht verstanden. 

Die Institution des Handwerkerhofs blieb unserer Schule jedoch erhalten. Die Schülerinnen und Schüler besuchen ihn nun in der 9. Jahrgangsstufe. Je einen Tag pro Woche verbringen sie in kleinen Gruppen in einem von neun Handwerksbetrieben und lernen so im Laufe eines Schuljahres sechs Gewerke intensiv kennen. Neben der handwerklichen Grundbildung geht es nach wie vor um die »Fruchtbarkeit des Handwerklichen für die Persönlichkeitsbildung«, wie es im Originalkonzept von 1989 heißt. Und nach mehr als 30 Jahren Erfahrung mit dem Konzept ist deutlich geworden, dass die erworbenen manuellen Fähigkeiten keinen geringeren Wert haben als abstrakte Wissensinhalte. Vielmehr sind sie die Voraussetzung für die Aufnahme komplexerer abstrakter Zusammenhänge.

Nach einer Reform der Mittel- und Oberstufe im Jahr 2014 werden an der Gröbenzeller Waldorfschule heute bereits in der siebten und achten Klasse Praktika angeboten: ein Küchenpraktikum in der siebten Klasse, zwei Wahlpraktika und ein Forstpraktikum in der 8. Klasse. Ein Drittel des Schuljahres verbringen die Achtklässler:innen dadurch nicht in der Schule, sondern suchen Lernfelder außerhalb des Klassenzimmers, wo sie Dinge abrufen können, die im klassischen Unterricht nicht möglich sind: Verantwortung übernehmen, reales Leben statt Kunstraum Schule. In einer Phase, in der das Leben für die Heranwachsenden in den Umbruch geht, wird ihnen die Einsicht vermittelt: Ich werde gebraucht. 

Für mich sehr eindrücklich war die Erfahrung der Bauepoche in der dritten Klasse. 36 Kinder, völlig ungeübt in handwerklichen Fähigkeiten, erstellten selbstständig – unter Anleitung Erwachsener – ein vollständiges Gebäude, das Stauntheater, das bis heute den Schulhof ziert. Die Bauepoche zeigt, dass alle Kinder uralte Fertigkeiten mitbringen und dass weise Pädagogik Möglichkeiten bietet, sie erscheinen zu lassen. Noch fast nichts wissen, aber alles können. Das Gegenteil davon scheint die einzig auf Abschlüsse reduzierte Bildungspolitik vieler Regelschulen zu erzielen: alles wissen, aber nichts können. 

Wenn es in der Schulzeit gelingt, die Fähigkeiten der Kinder zur Entfaltung zu bringen, ist viel erreicht. Aus solchen Erfahrungen entsteht das Gefühl, nicht einfach in das Leben geworfen zu sein, sondern aus eigener Kraft den richtigen Ort zu finden – ganz ohne digitalen Berater.

Quellen: Erziehungskunst 01/02-2018, GEA Herbst 2018, Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821; erw. Form 1829. 1. Buch, 2. Kap., Josef Endres Schulzeitung der Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell 2017

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