Harry Potter und die Heiligtümer der Kindheit

Sven Saar

Die dankbarsten Leser der Bücher sind heute etwa 24 Jahre alt. Sie waren elf, als das erste Buch erschien, und somit jedes Jahr im gleichen Alter wie Harry. Das ist nämlich eines der Erfolgsgeheimnisse der Serie: Es gelang der Autorin, nicht nur die Charaktere altern zu lassen, sondern Stil, Inhalt und Anspruch jedes Buches den Interessen des Zielpublikums anzupassen, und das war eben immer so alt wie Harry. So sind Süßigkeiten beispielsweise im ersten Buch noch sehr wichtig und verlieren später allmählich an Bedeutung, und der Sport – in der Quidditch-Weltmeisterschaft und im Trimagischen Turnier – spielt im vierten Buch eine Hauptrolle. Harry verliebt sich zum ersten Mal ernsthaft als Fünfzehnjähriger und muss schließlich in seinem achtzehnten Lebensjahr, auf sich allein gestellt, erwachsen werden.

Die Bücher haben während ihrer großen Zeit viel Kritik auf sich gezogen, nicht zuletzt von Lehrern und anderen Feingeistern, die durch die Popularisierung der Jugendliteratur das Niveau auf ein gefährliches Minimum sinken sahen. Mir ging es als Klassen- und Oberstufenlehrer immer anders: Ich freute mich über das verschwunden geglaubte Phänomen des lesebesessenen Kindes. Hatte ich nicht mit Kollegen darüber gejammert, wie schwer es war, die Schüler zum Lesen zu bewegen? Jetzt lasen sie – und wie! Sechshundert Seiten wurden in einer Woche verschlungen, dann noch einmal langsamer durchgelesen und dem nächsten Teil wurde entgegen gefiebert, als gebe es Harry und seine Freunde wirklich. Hochgebildeter Snobismus ist hier fehl am Platz: Bücher begeistern Kinder! Ich war dabei!

Als Kinder haben wir heute Grauhaarigen Karl May verschlungen. Rückblickend ist da vieles Kitsch und den Werten des 21. Jahrhunderts nicht angemessen, aber wir haben bei Old Shatterhand gelernt, uns in der Welt eines Buches zu verlieren und dabei Werte der Freundschaft, der Treue und des Fair Play aufgenommen. Was für ein wichtiges Geschenk das ist: Wer in einer gut erzählten Geschichte aufgehen kann, wird sich niemals im Leben langweilen! Wenn man bedenkt, wie viel Unheil Menschen sich und anderen aus innerer Leere und Langeweile antun, kann man als lesender Mensch nur erschauernd dankbar sein. 

Lebensnah und archetypisch 

Der Akt des Lesens allein ist jedoch bei Weitem nicht die Hauptattraktion der Bücher über Harry Potter. Wer sie aufmerksam verfolgt, entwickelt mit der Zeit einen tiefen

Respekt für das Verständnis der jugendlichen Seele, mit dem die Serie konzipiert wurde. Hier werden die Leser moralisch erzogen, ohne dass es aufdringlich oder peinlich wirken würde, und die Lehren, die nachklingen, sind von erstaunlicher Subtilität. Wichtig ist, sich immer das Alter der Zielgruppe vor Augen zu führen, wenn man sich ein Urteil über Kinderbücher bildet. So ist der Scheinriese TurTur in »Jim Knopf« eine großartige Metapher für vermeintliche Bedrohungen, die sich bei näherem Hinsehen als harmlos entpuppen, und wirkt für ein acht- bis neunjähriges Kind herrlich therapeutisch. Ältere Leser können mit dem Bild vielleicht weniger anfangen. 

Betrachten wir die Welt von Hogwarts als phantasievoll verspiegeltes Bild des kindlichen Erlebens. Attraktiv gemacht wird es zunächst durch Vertrautes: Da ist der beste Freund Ron, der für fast alle Kinder erlebbare Realität ist. Da ist die Streberin Hermine, die immer alles besser weiß, durch ihre Loyalität und Selbsterkenntnis aber stets sympathisch bleibt. Überhaupt haben alle Sympathieträger deutliche Charakterschwächen, welche auch im Laufe der Handlung erkannt und überwunden werden müssen. So richtige »Loser« gibt es nicht: Neville Longbottom, vom Auftreten bis zum Namen das klassische Mobbing-Opfer, bestätigt sich wieder und wieder als bescheidener, aber verlässlicher Held in der Not. Die Lehrer sind als Archetypen in jeder Schule zu finden: der gütige, weise, aber etwas fremde Mentor; die unerbittlich strenge, aber immer gerechte Musterlehrerin; die energische Sportlehrerin; die seltsame, sentimentale Esoterikerin; ja auch der Blasse mit den fettigen Haaren – sie alle sind fester Bestandteil unserer Schulerinnerungen.

Hat das lesende Kind aber erst einmal Vertrauen zu dieser so bekannten und doch durch die Zauberei pfiffig verfremdeten Welt gefasst, wird es sogleich erzogen: Wie ist das denn mit dem Bösen in der Welt? Hier wird das Buch auf einer viel tieferen Ebene stimmig: Nur die Wenigsten trauen sich, die Luzifer-Figur Voldemort beim Namen zu nennen. Nicht nur durch Goethes Faust wissen wir, dass ein böses Wesen an Macht über uns einbüßt, wenn wir es erkennend benennen. Voldemort ist zu Beginn der Geschichte eigentlich armselig dran – die Auseinandersetzung mit Harrys Mutter hat ihm fast alle Kraft geraubt. Nur durch die Angst der Menschen kann er erstarken – sie ist seine eigentliche Nahrung, seine Seelensubstanz.

Am Ende muss er unterliegen. Harrys Liebesfähigkeit bezwingt ihn. Das Thema des Vergebens spielt in jedem Buch eine wichtige Rolle: Durch seine Weigerung, auf Vergebung zu verzichten und seinen Rachegefühlen nachzugeben, macht Harry viele Entwicklungen überhaupt erst möglich. 

Auf das Medium kommt es an 

Eine der interessantesten Figuren in diesem Zusammenhang ist Professor Snape: Die jugendlichen Leser werden durch ihre Identifikation mit Harry, Ron und Hermine dazu angehalten, Snape zu fürchten und zu verachten, und doch streut Rowling in jedem Buch etwas Zweifel an diesem Vorurteil. Am Ende des sechsten Buches fühlen sich die Zyniker zunächst bestätigt, wenn Snape den großen Zauberer, die Hauptnebenfigur Professor Dumbledore, vor Harrys Augen tötet. Und doch erweist sich erst im letzten Buch die gesamte Ekelpersönlichkeit des Zaubertrankprofessors als sorgsam entwickelte, selbstverleugnende Scharade, um am Ende den Sieg des Guten zu ermöglichen. Welch ein heldenhaftes Opfer hat der Mann gebracht! Wäre er nicht bloße Erfindung, man müsste den Hut vor ihm ziehen. Von buchstäblich Hunderten von Millionen von Menschen acht Jahre lang verachtet zu werden, um dann im letzten Moment die eigentliche Noblesse zu zeigen – das hat Größe, und das hat Vorbildcharakter für den heranwachsenden Menschen. 

Mit diesem Ausflug ins Detail komme ich zu meinem Hauptanliegen: Entscheidend ist nicht der bloße Konsum des Phänomens Harry Potter, sondern vor allem das Wie. Es handelt sich bei Harry eben nicht um eine bloße Buchfigur, sondern um ein Marketingphänomen. Anfangs schrieb ich, dass die dankbarsten Leser der Bücher im jeweils gleichen Alter sind wie die Hauptfiguren. Durch das gut gemeinte Vorlesen der Geschichten oder das gemeinsame Anhören der CD auf Autofahrten und natürlich das Anschauen der Filme wird die Intention der Autorin ignoriert und die Wirkung der Bilder dem Entertainment geopfert. 

Wie leicht ist es heute, das Begehrte sofort, verfrüht und ohne Eigenleistung zu bekommen. Wie oft habe ich im Kino bei Harry Potter-Filmen hinter Kindern gesessen, die diese Bücher niemals lesen werden. Alles, was ein Buch uns zu eröffnen vermag, was die tiefschichtigeren Aspekte der Geschichten uns zu vermitteln versuchen, geht verloren, wenn wir es zur falschen Zeit und durch das falsche Medium aufnehmen. Wie viel würde ein Kind gewinnen, wenn die Eltern es ihm erlaubten, sich die Welt von Hogwarts Buch für Buch zu erlesen! Ist das nicht auch eine wegweisende Kindheitserfahrung? Die Welt der Bücher ist mir selbst zugänglich, ohne vorlesenden Papa, ohne CD-Spieler, ohne Film, der mir meine Phantasiebilder entreißt? Was hier dem zehn- bis zwölfjährigen Kind ermöglicht wird, trägt Früchte für ein ganzes Leben. 

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.

Literatur: Lorenzo Ravagli, Die geheime Botschaft der J.K. Rowling. Ein Schlüssel zu Harry Potter