Hauptschüler werden Helden

Ulrich Maiwald

Die Namensliste der Teilnehmer war vielversprechend: Fatima, Chririn, Anissa, Sefkan, Can, Nurcan … Das klang so ganz anders, als ich es bisher gewohnt war und weckte mein Interesse, was für Menschen sich hinter den türkischen, marokkanischen, aber auch portugiesischen und deutschen Namen verbargen. Ich wurde nicht enttäuscht, denn mir begegneten Jugendliche mit hellwachen Augen, viel Energie, Kraft, Bewegungstalent und großem Engagement.

Natürlich brachten sie auch das Potenzial zu Chaos und Anarchie mit in die Proben, aber welcher Jugendliche hat das nicht? Die große Aufgabe war zunächst, aus den fünfzehn Schülerinnen und Schülern eine belastbare Gruppe zu machen.

Es galt, Grenzen abzubauen und den Toleranzraum zu erweitern. Meiner Kollegin Friederike Dickmans, die an dieser Hauptschule seit vielen Jahren mit Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft erfolgreich arbeitet, machte mich auf die speziellen Verhaltensnormen aufmerksam, die zum kulturellen Hintergrund der einzelnen Schüler gehören. So kann zum Beispiel der Umgang mit körperlicher Berührung zwischen Jungen und Mädchen unterschiedlicher ethnischer Herkunft eine unüberwindliche Hürde darstellen. Auch die Hierarchien innerhalb der Gruppe müssen respektiert werden, damit eine Zusammenarbeit möglich ist. Dabei halfen uns zahlreiche theaterpädagogische Übungen, die einen achtsamen Umgang miteinander förderten und Hemmungen abbauten.

Machtspiele oder Wir sind die Helden

Über Körper- und Sprechtraining wurden zunächst die darstellerischen Mittel der Mitspieler erweitert, dann gemeinsam das Stück erarbeitet. Das Stück »Machtspiele oder Wir sind Helden« handelt von einer Clique von Jugendlichen, deren Anführer seine Mitglieder mit Drohungen und Gewalt einschüchtert und sie dazu zwingt, ausschließlich seinen Regeln zu folgen. Es ist untersagt, Kontakt zu einer anderen Jugendgruppe aufzunehmen – in unserem »Fall« einer Gruppe, die sich zum Theaterspielen mit einer Regisseurin trifft und an dem Stück »Der Belagerungszustand« von Albert Camus arbeitet.

Aleyna, die Hauptfigur und Heldin des Stückes akzeptiert diese Regeln, die zu Ausgrenzung, Angst und Unfreiheit führen, nicht und spielt gegen den Willen des Anführers in der Theatergruppe mit. Schließlich kommt es zum offenen Konflikt. Als Aleyna von dem Schlägertrupp des Anführers bedroht wird, steht die Gruppe vor der Entscheidung, ob sie sich weiter unterdrücken lässt oder Zivilcourage zeigt und sich zu Aleyna stellt. Als roter Faden zieht sich die Liebesgeschichte von Aleyna und Dwayn, einem Mitglied der Clique, durch das Stück. Die Szenenfolge wechselt zwischen dem realen Geschehen in der Clique und der Bühnenhandlung in Camus Stück.

In unserem Fall war der Held ein Mädchen, was schon eine Provokation in sich barg, denn das klassische Rollenverständnis wurde in Frage gestellt und die Heldenfigur neben den klassischen Attributen wie Mut, Stärke und Entschlossen­heit um einige Sozialfähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Kreativität, Toleranz, Herzenswärme und Intuition erweitert. Wir erarbeiteten erste szenische Skizzen und entwickelten die Texte zum Teil über Improvisationen gemeinsam. Spieler und Text wuchsen immer dichter zusammen. Nach und nach wurde es ihr eigenes Stück.

Feuerprobe

Die jungen Menschen lernten, sich von einer ganz anderen, vielleicht sogar verletzlichen Seite zu zeigen – ein labiler Prozess, der immer wieder auch Einbrüche erfuhr. Regeln des respektvollen Umgangs mussten immer wieder geklärt werden, damit ein Schutzraum für die Entwicklung des Einzelnen und der Gruppe entstehen konnte. Die schauspielerischen und sozialen Fähigkeiten der Spieler wuchsen und stärkten das Selbstvertrauen der Schüler. Zufriedene und stolze Gesichter, strahlende Augen oder auch nur ein selbstbewusstes Nicken, wenn eine Bühnenaktion gelang.

Das Ziel, die Aufführung vor öffentlichem Publikum, rückte näher. Die Schüler veränderten sich, wurden beweglicher und differenzierter in ihrem Spiel. Auch das Stück selbst entwickelte sich fortwährend unter der Mitarbeit der Jugendlichen weiter: »So würde ich das nie sagen, das klingt zu gestellt, können wir das nicht so machen?« Der Text wurde dichter und dichter. Die Jugendlichen prüften den Handlungsverlauf immer wieder darauf ab, ob er ihren Wertemaßstäben standhielt. Ein Mädchen bestand darauf, dass eine Szene, die sie mit einem Jungen spielte, so abgewandelt wurde, dass die weibliche Bühnenfigur ihren Stolz erhalten konnte: »So würde ich doch nie mit mir umgehen lassen!« Sonderproben, auch an schulfreien Tagen, waren keine Frage, und es zeigte sich einmal mehr, dass diese Jugendlichen nicht nur motivierbar, sondern auch in hohem Maß selbst motiviert waren.

Selbstverständlich war der Weg bei aller Begeisterung und Positivität auch von Prüfsteinen gepflastert. In der Stressphase unmittelbar vor der Aufführung nahmen die Ängste und Selbstzweifel zu, die sich nicht selten in Unmut, überzogener Gleichgültigkeit und Destruktivität Luft machten. Es stand viel auf dem Spiel: das Ansehen vor den Mitschülern, der Ruf an der Schule und in der Öffentlichkeit – eine echte Feuerprobe, die jedem Mut und Kraft abverlangte.  »Wir werden auftreten, es gibt kein Zurück und wir werden es gut machen und die Menschen werden eure Leistung anerkennen«, so lautete unsere Losung.

Die letzte Prüfung

Am Ende unserer gemeinsamen »Reise« stand die letzte große Prüfung: die Aufführung vor öffentlichem und schulinternem Publikum. Jetzt musste sich zeigen, ob die einzelnen Spielerinnen und Spieler unterschiedlichen Alters und ethnischer Herkunft zu einer belastbaren Gemeinschaft zusammengewachsen waren. Auf der Bühne überwanden die Schüler jegliche Scheu und Hemmungen, sie spielten sich frei und begeisterten die Menschen. Es war ein gelungener Abschluss einer intensiven Zeit.

Wächst der Einzelne, wächst die Gruppe

Jugendliche sind Jugendliche, ganz gleich, welche Schulform sie besuchen oder welchen ethnischen Hintergrund sie haben. Es sind Menschen mit Träumen, Wünschen und Zielen und dem starken Bedürfnis, ernst genommen zu werden in ihrem Streben nach Selbstentfaltung und Weiterentwicklung. Die theaterpädagogische Arbeit bietet ein reiches Angebot, sein seelisches und körperliches Spektrum zu erweitern. Die Jugendlichen lernen, ihre Wirkung auf andere Menschen in Wort, Geste und Haltung kennen und bewusst einzusetzen. Sie werden sich ihrer Selbstwirksamkeit bewusst. Gleichzeitig erfahren sie aber auch die notwendige Einbettung ihrer Aktivitäten in die Gemeinschaft. Jeder ist ein Teil eines großen Ganzen. Diese Gewissheit schärft den Blick für den notwendigen Zusammenhalt untereinander und die Verantwortung des Einzelnen für die Gruppe.