Hauptunterricht als Grundstock einer lebendigen Bildung

Tomáš Zdražil

Bereits 1986 erschien in New York eine erschütternd hellsichtige Gesellschaftskritik von Theodore Roszak unter dem Titel The Cult of Information. Roszak warnte vor dem absehbaren Zerfall der Bildung und des Denkens, wenn sich das Bildungssystem nicht gegen die Strategie und Propaganda der Computer- und Technologie-Konzerne wehre. Das Wissen werde bald in zerstückelte atomisierte Daten zersetzt werden: »Der Geist denkt in Ideen, nicht in Informationen …«. Und weiter: »Eine Kultur überlebt kraft der Macht, der Beweglichkeit und der Fruchtbarkeit ihrer Ideen. Der Primat liegt bei den Ideen, denn Ideen definieren, erhalten und erzeugen schließlich Informationen. Die Hauptaufgabe der Bildung ist es daher, den kindlichen Geist darin zu schulen, wie man mit Ideen umgeht …« Seitdem sind beinahe 35 Jahre vergangen und die weitere Entwicklung hat Roszaks Sorgen im hohen Maße bestätigt. Der österreichische Philosoph K. P. Liessmann stellte 2006 eine Theorie der Unbildung auf: Die heute viel beschworene Wissens- und Informationsgesellschaft bestehe in Wirklichkeit aus der sich vergrößernden Masse von unwissenden, ungebildeten Individuen, die weitgehend in ihren Echokammern und Informationsblasen vegetieren und deren selbstständiges kritisches Denken und deren Mündigkeit gefährdet sind. Dieser kritische Zeitkontext verdeutlicht die Qualität, um die es in der Bildung, in jeder ernsthaften pädagogischen Arbeit geht, und der sich ganz besonders die Pädagogik der Waldorfschule verpflichtet fühlt. »Der Grundstock« (Steiner) des Unterrichtes ist hier der Hauptunterricht. Welche Bildungsidee liegt der Einrichtung des Hauptunterrichts zugrunde?

Bildung braucht Muße und eine kontinuierliche Beschäftigung mit einem Thema. Jeden Morgen werden in der Waldorfschule dafür fast zwei Stunden über den chronobiologisch begründeten Zeitraum von – idealerweise – vier Wochen eingesetzt. Die Aufmerksamkeit der Schüler wird gebündelt, nicht fragmentiert. Der Schüler taucht mitten in das Thema ein. Die Zugänge sind vielfältig: musikalisch, dichterisch, bildnerisch und natürlich vor allem auch durch die Darstellung des Lehrers und das anschließende Gespräch mit der Klasse. Erst allmählich bilden sich aus den Eindrücken und Erlebnissen Kenntnisse und Erkenntnisse. Eine besonders produktive Rolle bei der Verarbeitung spielt dabei der Schlaf, der für etwas Abstand sorgt, Wesentliches und Unwesentliches voneinander scheidet und das Wissen individualisiert. Der Schlaf wird zum Mit-Bildner.

Ein Thema wird in vielfältige ideelle Zusammenhänge eingebettet, beleuchtet und Querbezüge zu anderen Themen werden gezogen.

Betrachten wir einige Beispiele

In der fünften Klasse wird im Unterricht über weit vergangene geschichtliche Zeiträume gesprochen. Der Lehrer behandelt das Leben der Menschen vor der »Seßhaftwerdung« und erzählt uralte indische Sagen. In der Erzählung tauchen die geographischen Besonderheiten des indischen Subkontinents, dessen Landschaftstypen und Wetterverhältnisse auf. Es ist schön, wenn ein Beispiel einer typischen Pflanze und eines typischen Tieres die Darstellung illustrieren – oder das, was diese Natur an Nahrungsmitteln hergibt. Auch die Geistigkeit und das religiöse Leben werden dargestellt. Alles erscheint in Bildern, als ob die Klasse selbst in Indien wäre. Die Kinder rezitieren zusammen heilige Sprüche aus Indien, sie zeichnen schöne farbige Mandalas, sie probieren einige Übungen der uralten Yoga-Schulung, sie schreiben diese Erzählungen in ihre Epochenhefte. Sie werden angeregt und stellen weiterführende Fragen. Eine bildhafte, lebendige Idee der alten nomadisierenden Menschheit am Beispiel Indiens bildet sich.

In der siebten Klasse wird in einer Epoche die Art und Weise, wie der Stoffwechsel den menschlichen Leib unterhält, ihn fördert oder stört, also die Frage von Gesundheit und Krankheit behandelt. Wird die Anatomie der inneren Organe aufgezeichnet, stellt sich oft die Frage, seit wann die Menschen davon wissen, wie ihr Organismus innerlich gebaut ist. Man kommt auf den Anfang der Neuzeit. Die Wissbegierde und der Mut der ersten Anatomen werden geschildert. Dann wird beim Stoffwechsel von einem Verbrennungsvorgang gesprochen. Dieser ist ein großes Thema der ersten Chemie-Epoche. Die Frage der Energie-, Wärme- und Lichtspeicherung und -freisetzung eröffnet sich. In der Menschenkunde wird der Zusammenhang der Botanik mit der Chemie hergestellt. Eine Schülerin stellt die Frage: »Wie kam eigentlich in die Pflanze die Energie, die wir in unserem Leib aus den Nährstoffen freisetzen?« Das ist immer ein sehr wichtiger Moment, wenn Fragen gestellt werden. Es öffnet sich ein Fenster des Interesses und der Aufmerksamkeit in der Klasse. Auch wenn eine Frage sehr weit entfernt vom »eigentlichen« Unterrichtsthema scheint, ist sie wichtig. Nun zählt die Geistesgegenwart des Lehrers! Man kann trotz der Kürze der Zeit sehr viel darstellen und auf eine besondere Empfänglichkeit und Bereitschaft der kindlichen Seele zählen.

Die Antwort weist dann auf die Bedeutung der Sonne für die Lebewesen auf der Erde. Wenn man über den von den Schülern sehr geliebten Rübenzucker spricht, werden die wirtschaftlichen Aspekte seiner Produktion und seines Konsums einbezogen. Ein Schüler fragt: »Wieso gibt es so viel Werbung für Süßigkeiten, wenn sie so ungesund sind?« Hier taucht die Problematik der Werbung und der wirtschaftlichen Interessen auf, die die menschlichen Begierden anreizen. Vielleicht mag hier ein Exkurs darüber angebracht sein, wie die amerikanische Zuckerindustrie Jahrzehnte lang versucht hat, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über den Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und tödlichen Herzkrankheiten zu blockieren. Die Frage, woher kommen denn unsere Lebensmittel geographisch, eröffnet einen ersten Einblick in die globale Wirtschaft. Ein dichtes Geflecht von ideellen Zusammenhängen aus Physiologie, Geschichte, Chemie, Astronomie, Wirtschaftskunde und anderem mehr tut sich auf. Jedoch bildet der Mensch immer einen Mittel- und Bezugspunkt.

Dem Fach Geographie fällt dabei eine ganz besondere integrative Bedeutung zu. Es hat die Funktion und den Auftrag, Zusammenhänge herzustellen. Alle Aspekte des Naturraums und der Kultur, Bodenbeschaffenheit, Wetterverhältnisse, die Biosphäre mit Pflanzen und Tieren, mit Landschaften und Bodenschätzen, die Kultur mit Sagen und Geschichte, mit Denkmälern und berühmten Persönlichkeiten, kurzum: Die Welt steht in allen Aspekten vor uns. Das Interesse weitet sich von der Heimat über die Nachbarländer bis zu allen Kontinenten und Kulturen.

Solche ideellen Zusammenhänge herzustellen, erfordert vom Lehrer, innere Beweglichkeit und das Denken in Zusammenhängen selbst zu praktizieren. »Für alles Weltliche und für alles Menschliche müssen wir als Lehrer Interesse haben.« Steiner nennt die Kraft, die unser Denken und unsere Bildung beflügelt und belebt, Phantasie. Sie befeuert das denkende Suchen nach den verborgenen ideellen Zusammenhängen in der Welt und wird zum wesentlichsten Motor der Erkenntnis.

Der Vorbereitungskurs für die ersten Waldorflehrer ist in seinem methodisch-didaktischen und seminaristischen Teil voller Anregungen zur Entfaltung der Phantasie und Veranlagung einer lebendigen Bildung. So tauchen z.B. an einem Kurstag als Übungen folgende Themen auf: erste musikalische Erziehung, Zinsrechnung mit Algebra, mittelalterliche Städtegründungen und Einfälle der Magyaren, mathematische Geographie, Astronomie, altägyptische Geschichte und Mythen sowie Kegelschnitte. Welche schwindelerregende Fülle und herausfordernde Vielfalt! Jeder Aspekt wird unter dem Gesichtspunkt der kindlichen Entwicklung und seiner Beziehung zu den menschlichen Seelenkräften behandelt. Alles zusammen bildet ein Ganzes im Sinne einer lebendig werdenden Bildung.