Hausaufgaben – ein alltägliches Drama

Henning Köhler

Roman hat wieder mal seine Hausaufgaben nicht gemacht. Er besucht die fünfte Klasse einer süddeutschen Waldorfschule. Der Klassenlehrer legt großen Wert auf regelmäßige und ordentliche Hausaufgabenerledigung. Romans Eltern wurden nachdrücklich auf die didaktische Notwendigkeit und den erzieherischen Nutzen von Hausaufgaben hingewiesen. Aus schulischer Sicht scheint der Fall klar zu sein: Roman folgt dem Lust-und-Laune-Prinzip, man muss ihn streng dazu anhalten, seinen Pflichten nachzukommen.

Perspektivenwechsel. Roman ist eines der Kinder, denen es auch mit elf Jahren noch schwer fällt, im Zustand weitgehender körperlicher Inaktivität stundenlang die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Er bemüht sich aber und hat gegen Mittag einen Erschöpfungspunkt erreicht. Für den Rest des Tages müsste wirklich Schluss sein mit schulischem Lernen. Er kommt gegen 13.30 Uhr nach Hause, blass, appetitlos, verkrümelt sich in sein Zimmer, blättert Comic-Hefte durch. Es dauert eine Stunde, bis sich der Hunger meldet. Nach dem Essen erwacht sein Tatendrang, er will am liebsten hinaus, Rad fahren, mit Freunden spielen. Aber zuerst müssen Hausaufgaben gemacht werden. Es ist jetzt 15 Uhr. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Roman wehrt sich mit Händen und Füßen. Man hat der Mutter zu eiserner Konsequenz geraten. Sie hält bis etwa 17 Uhr durch. Roman hat in dieser Zeit ein Pensum geschafft, das normalerweise 10 Minuten in Anspruch nehmen würde. Er fängt an zu weinen. Die Mutter kapituliert, verhängt aber, um ihre Autorität zu wahren, Hausarrest. Gegen 18.30 Uhr trifft der Vater ein und will die Sache regeln. Aber Roman ist unter (!) sein Bett gekrochen und rührt sich nicht mehr. Seit Monaten wiederholt sich das Spiel mindestens jeden zweiten Tag.

Leider kein Einzelfall. Die Bedrohung des Familienfriedens durch Hausaufgaben ist ein weit verbreitetes Problem. Dabei müsste das nicht sein! »Hausaufgaben haben keinerlei Effekt im Hinblick auf die Schulleistung«, lautet das Resümee einer Studie, die Hans Gängler 2008 im Auftrag der Universität Dresden durchführte. Zahlreiche andere Studien der letzten Jahrzehnte erbrachten dasselbe Ergebnis. Hilmar Schwemmer legte schon 1980 eine gründliche Arbeit vor, aus der hervorgeht, dass Hausaufgaben

  • den Aufbau positiver (…) Lehrer-Schüler- und Eltern-Kind-Beziehungen gefährden,
  • die Chancengleichheit beeinträchtigen,
  • eine Gefahr für die moralische Entwicklung der Schüler darstellen (weil sie Lüge und Betrug provozieren),
  • didaktisch nutzlos sind.

Der SPIEGEL titelte damals: »Hausaufgaben sind Haus­­friedensbruch«. Ilse Nilshorn führte 1999 im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts e.V. eine Untersuchung durch und kam zu dem Schluss, »ein Lernmodell, in dem Hausaufgaben als Pflichterfüllung von schulmeisterlichen Vor­-gaben zur Bedingung des schulischen Lernens gemacht werden«, sei pädagogischer Widersinn.

Rudolf Steiner sagte einst: »Hausaufgaben sollen als freie Aufgaben gegeben werden, nicht als Pflichtaufgaben: ›Wer’s machen will‹.« Vor einigen Jahren hat Dieter Centmayer die wichtigsten Äußerungen Steiners zu dem leidigen Thema in der erziehungskunst (2/07) zusammengestellt.