Hebet el Nil – Geschenk des Nils. Eine Waldorfinitiative in Luxor

Bruno Sandkühler

Wenn auch viele der Dorfbewohner im Umkreis des Tourismus ihren Unterhalt suchen, so hat sich doch im Leben und Denken der Menschen eine bäuerliche Tradition bewahrt, in der hinter der Fassade des Tourismusrummels die alte Herzlichkeit, die Gastfreundschaft und das Gespür für Familie und menschliche Werte erhalten blieben. Und überall stößt man auf die Sehnsucht nach Bildung.

Als Touristin kam auch Nathalie Kux nach Luxor. In einem malerischen Café am Nil sprach man über die unbefriedigende Schulsituation. Mechanisches Auswendiglernen, unterbezahlte Lehrer, überfüllte Klassen … Mohammed, einer der Anwesenden, kannte die Sekem-Schule, so rückte die Waldorfpädagogik in den Mittelpunkt und weckte in den Bauern den Wunsch: »Ach, hätten wir doch auch so eine Schule!« Nathalie war zur Hilfe bereit und vermittelte den Kontakt zu einem Waldorflehrer aus der Schweiz. So begann dieses Vorhaben, dem sich bald mancherlei Hindernisse in den Weg stellten. Aber Nathalies Zähigkeit und ein guter Stern führten zur Gründung eines Kindergartens, der den Namen Hebet el-Nil erhielt – Geschenk des Nils. Freunde stifteten Farben, Pinsel, Flöten, aber das Entscheidende war wohl eine Gruppe von jungen Frauen aus der Gegend, die in verschiedenen Fächern ihr Studium abgeschlossen hatten und zum Teil über Unterrichtserfahrung an staatlichen Schulen verfügten – in Klassen mit bis zu 60 Kindern!

Es war, als hätten sie schon auf einen neuen Impuls gewartet. Ein Exemplar der Broschüre der Unesco-Waldorf-Ausstellung auf Arabisch gab einen Eindruck von der internationalen Vielfalt der Waldorf-Welt, führte aber zu einem unerwarteten Erschrecken, als irgendjemand entdeckte, dass die arabische Übersetzung in Israel entstanden war. Dieses politische Gift ist leider allgegenwärtig, es konnte aber letztlich die Begeisterung nicht wirklich hemmen.

Kinder im Überfluss

Rascha, eine der ägyptischen Lehrerinnen, erklärte auf einem Elternabend den Bauern mit solcher Wärme die Bedeutung des Künstlerischen und der kindlichen Entwicklung, dass man denken konnte, sie hätte ein Waldorf-Seminar besucht. Bald kam der Kontakt mit Sekem zustande, die Lehrergruppe konnte dort die Schule besuchen und Anregungen mit nach Luxor nehmen. Die Freunde der Erziehungskunst nahmen Hebet el-Nil in ihre Aussendungen auf.

Im Herbst 2017 konnte auch die Schule mit einer ersten Klasse beginnen, aber die für die Anfänge gemietete Villa war nicht nur bald zu klein, sondern wurde von den Eigentümern benötigt und musste im Herbst 2018 verlassen werden. Zudem ist ein eigenes Gebäude mit bestimmten Anforderungen Voraussetzung für eine Schulgenehmigung. Es musste also gebaut werden. Nach einigen Anläufen wurde zwar ein Baugrundstück gefunden, aber damit war nur eine der vielen Voraussetzungen erfüllt, die von Begehrlichkeiten eines Nachbarn über rechtliche und gestalterische Aufgaben bis zu der erforderlichen finanziellen Grundlage reichten. Bei jedem Schritt waren Hürden aus dem Weg zu räumen.

Das Einzige, was im Überfluss da war, waren die Kinder, die der Schule von allen Seiten zuströmten, ein Reichtum, an dem es in Ägypten gewiss nicht fehlt. Die Kinder waren von Anfang an eifrig und mit Begeisterung am Aufbau beteiligt, so etwa mit dem Weiterreichen von Ziegeln beim Bau der obligatorischen Umfassungsmauer. Es ist eine Freude, ihnen beim Spielen, Malen und Singen oder bei der emsigen Arbeit in der Klasse zuzuschauen. Es ist ihre Schule.

Ein Netzwerk und Schuldorf entsteht

Aus Eurythmie ist arabisch »Schöne Bewegung« geworden. Nach einem Besuch in Sekem kam ein Lehrer zur Einführung, umgekehrt konnte eine Lehrerin aus Qurna auf Sekem Eurythmie erleben. Mohammed, der in Stuttgart studiert, hat das Wagnis begonnen, erste Vorträge der »Allgemeinen Menschenkunde« ins Arabische zu übersetzen.

So entsteht durch das unermüdliche Engagement von Nathalie Kux und des ägyptischen Teams um Hebet el Nil herum ein Netzwerk. Marina Meier und Karin Eckstein kommen regelmäßig aus der Schweiz zur Fortbildung der Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen. Der Ruf der Schule verbreitet sich um Luxor, was natürlich zu dem Dilemma führt, dass man der großen Nachfrage nicht gerecht werden kann. Auch die Inspektoren des Schulamts sind von dem Konzept positiv beeindruckt.

In den 1950er Jahren hatte der berühmte ägyptische Architekt Hassan Fathi in Qurna ein Dorf gebaut, in dem er die traditionelle Lehmziegel-Architektur und ihre Technik des Kuppelbaus weiterentwickelte. Leider wurde durch verständnislose Behörden die Anlage so vernachlässigt, dass sie verfiel und auch ihre Schulgebäude verschwunden sind. Aber die Technik des Kuppelbaus hat sich in Oberägypten gehalten. Nun konnte Christian Hitsch aus Salzburg gewonnen werden, der für Hebet el-Nil die Tradition erneuert und ein Schuldorf entworfen hat, dessen erste Gebäude schon fertiggestellt sind. Damit schließt sich eine neue Pädagogik mit einer alten Bautradition zusammen, so dass das Neue nicht als Fremdes erscheint. Auch eine weitere lokale Tradition gibt eine wichtige Grundlage: das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Kopten, und das Wirken eines Sufi-Scheichs, der in der Bevölkerung hohes Ansehen genießt und in Streitfällen schlichtet. Die Schule konnte zu diesem religiösen Umfeld ein gutes Verhältnis aufbauen und ist damit eingebettet in eine gelebte Religiosität und in eine Gemeinschaft, die aus der Beschaulichkeit der Empfindungsseele innerhalb weniger Jahrzehnte abrupt in eine »moderne« Welt katapultiert wurde und alleine keinen Ausweg finden kann. In dieser Situation erscheint eine auf künstlerischem Ansatz bauende Pädagogik als wirkungsvolles, oder gar als einzig mögliches Therapeutikum.

Durch den Wertverlust des ägyptischen Pfundes und massive Preiserhöhungen haben sich seit Juli 2018 die Baukosten verdoppelt. Für die Grundschule werden noch 170.000 Euro benötigt. Daher kommt es nun auf weitere Hilfen an, um die Gebäude zu errichten, die Gehälter der Lehrerinnen zu gewährleisten, die zwar landesüblich sind, aber mit monatlich etwa 100 Euro an der untersten Grenze liegen – und nicht zuletzt, um auch den Kindern den Zugang zu ermöglichen, deren Eltern nicht einmal in der Lage sind, das monatliche Schulgeld von umgerechnet etwa zehn Euro zu bezahlen.

Zum Autor: Dr. Bruno Sandkühler war Lehrer an der Michael-Bauer-Schule in Stuttgart und ist als Orientalist seit Jahrzehnten eng mit Ägypten, besonders mit der Sekem-Initiative verbunden.