»Hier stehe ich. Ich kann nicht anders«. Aufbruch der Bewusstseinsseele

Mario Betti

Nur der Stimme seines Gewissens wollte er gehorchen, sich keiner äußeren Autorität blind beugen. 1521, beim Reichstag zu Worms, vor dem Kaiser und vor Vertretern einiger europäischer Länder – kirchlichen und weltlichen Würdenträgern – soll er gesagt haben: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!«.

In der Autonomie der Gewissensstimme, in der Besinnung auf sich selbst, erkennt man Facetten einer Seelenqualität, die Rudolf Steiner in seiner »Theosophie« als »Bewusstseinsseele« bezeichnet. Es handelt sich um eine Dimension der Ich-Erfahrung, die in der Neuzeit entsteht und im Laufe einiger Jahrhunderte die Essenz der beiden anderen Seelenebenen in sich integriert und weiter ausformt: die Empfindungsseele und die Verstandes- und Gemütsseele. Man kann das Verhältnis dieser Seelenkräfte zueinander mit der Polarität Außen-Innen verdeutlichen.

In der Empfindungsseele ist das Ich dem Schein der Sinneswelt gefühlsmäßig hingegeben. Die Verstandes- und Gemütsseele verinnerlicht die äußeren Sinneseindrücke, indem sie diese mit Gedanken durchzieht und in das eigene Gemüt aufnimmt: Ich denke, also bin ich. Das ist ihre Devise. Der religiöse Mensch, der ganz in der Empfindungsseele lebte, würde beispielsweise nur in einer Naturreligion die Gottheit empfinden. Der Mensch einer verinnerlichten Religiosität kann sich auch einer Gottheit nähern, die im Denken wirkt und dennoch ganz innerlich erfühlt werden kann. Dadurch ragt die Verstandes- und Gemütsseele schon in das Gebiet der Bewusstseinsseele hinein, die in ihrer vollen Ausprägung die Grenzen von Außen und Innen überwindet und zu einer neuen Erkenntnis-Art durchstößt, die unter anderem Geistiges und Materielles als zwei Seiten ein und derselben Wirklichkeit erlebt. In Luthers Seele, wie auch in anderen Zeitgenossen, wirkten allerdings auch noch Impulse einer alten Zeit, die einen intensiven inneren Kampf um die Zukunft zur Folge hatten.

Die Bewusstseinsseele entwickelt sich also in einem dreifachen Verhältnis zur Wirklichkeit um uns, in uns und über uns. Sie schafft ein intensiveres Verhältnis zur Natur, zu uns selber – auch in biografischer Hinsicht – und zur Welt des Geistig-Göttlichen.

Die Anregungen Steiners zum Verständnis der Bewusstseinsseele werden durch eine Fülle empirischer Feststellungen in historischer, psychologischer und geistiger Hinsicht bestätigt. In jenen Jahrzehnten, in denen sie sich aus ihren keimhaften Anlagen zu entwickeln beginnt, beobachten wir zunächst eine fortschreitende Zuwendung zur materiellen Seite der Erde und des Kosmos, ein Erwachen an der Würde und Kraft des Individuums und ein neuartiges Gewahrwerden der geistigen Dimension in Mensch und Natur.

Was das erste Moment anbelangt – die Beziehung zur Welt um uns – sehen wir, dass sich der forschende Geist zunehmend dem physischen Himmel und der physischen Erde widmet. Ganz anders als in der Zeit der Romanik und Gotik mit ihrer innigen, oft ausschließlichen Zuwendung zur geistig-göttlichen Welt. Kopernikus, Tycho de Brahe, Kepler und Galilei entwerfen ein neues Bild des Himmels. Kolumbus, Vasco da Gama und viele andere umsegeln den Planeten Erde und erforschen neue Kontinente: Ein neues Bild der Erdkugel, in dem sich der Mensch zunehmend als einsamer Zuschauer erlebt, formt sich nach und nach. Aus dieser Einsamkeit heraus kann sich die Bewusstseinsseele und mit ihr die volle Schöpferkraft des »Ich« entfalten: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« Diesen Spruch könnte man als den Beginn einer wahrhaftig umwälzenden Selbstentdeckung, der Entdeckung eines inneren Kontinents verstehen.

Die biografische Relevanz der Bewusstseinsseele wird nicht in der Schulzeit, sondern in den Jahren sichtbar, in der gemeinhin die »Midlife-Crisis« auftritt, also etwa zwischen dem 35. und 42. Lebensjahr. In dieser Zeit kommt nur derjenige wirklich voran, der sich gleichsam neu schafft. Das oft oberflächlich angewandte Wort »sich neu erfinden« ist ein Tasten in die hier gemeinte Richtung.

Das war das zweite Moment, das Verhältnis zur Welt in uns. Wie verhält es sich mit den Reichen über uns?

Die Seele grenzt an die geistig-göttliche Welt

Es wurde schon angedeutet, dass sich in der Bewusstseinsseele die freie, volle Schöpferkraft des »Ich« entfaltet, und dass unter anderem Materie und Geist als zwei Seiten einer Wirklichkeit erfasst werden können. Je tiefer wir in diese beiden Dimensionen der einen Wirklichkeit eintauchen, um so mehr können wir durch unsere Ich-Tätigkeit in den Welten der Wahrheit, Schönheit und Güte aufwachen. In Reichen, die uns entgegenkommen, je mehr wir nach ihnen streben. Im Sinne Luthers müsste man sagen: Gott hilft uns. Es begegnen sich menschliches Erkenntnisstreben und geistige Erfüllung. Ewiges leuchtet in der menschlichen Seele auf, die das Geistige im Kosmos neu entdeckt. Damit berühren wir bereits die Grenze einer weiteren Höhendimension des Menschen: Das »Geistselbst«, wovon im nächsten Beitrag die Rede sein wird.

Dank der Bewusstseinsseele sind somit Erkenntnisse über Mensch, Erde und Kosmos möglich, die überall die menschliche Praxis befruchten können. Auch die Idee der Waldorfschule ist aus dieser Erfahrung geboren. Sie ist ja ein universell angelegtes Schulsystem, das unter anderem die Voraussetzungen schafft, dass die Bewusstseinsseele – und mit ihr die Widerstandsfähigkeit des »Ich« – im Laufe des Lebens mehr und mehr wachsen kann.

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: Erkenntnis und Tat – Auf dem Weg der sieben Intelligenzen, Stuttgart 2014

Literatur: Rudolf Steiner: Theosophie – Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, GA 9; Jörg Ewertowski: Die Entdeckung der Bewusstseinsseele – Wegmarken des Geistes, Stuttgart 2007; Bernard Lievegoed: Lebenskrisen-Lebenschancen, die Entwicklung des Menschen zwischen Kindheit und Alter, München 1979