Hilfe, ich bin nackt!

Arlene Reijnders

Um ehrlich zu sein, bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob es sich wirklich um eine Klassenfahrt handelte, und was Spanien betrifft, habe ich eigentlich auch keine Ahnung mehr. Alles, was ich weiß, ist, dass es heiß war. So heiß, dass ich auf den Spruch »Die Sonne lacht!« mit »Ja, wie der Joker aus Batman« geantwortet hätte, denn so schien die Sonne an diesem Tag: ununterbrochen, übertrieben und gnadenlos. Es war so heiß, dachte ich mir, während ich an ein paar improvisierten Wäscheleinen vorbei lief, auf denen ein paar Handtücher trockneten, dass man selbst in einem Bikini schwitzen würde, und ich wunderte mich, warum ich noch nicht tot umgefallen war. Denn ich trug keinen Bikini. Es war in dem Moment, dass mir auffiel: Ich trug gar nichts. Und jeder, absolut jeder konnte es sehen.

Mein erster Gedanke bestand aus Worten, so grob, dass ich mich schämen müsste, sie an dieser Stelle wieder zu geben. Mein zweiter war die Überlegung, ob ich vielleicht einfach so tun könnte, als wäre nichts. Dann kam mir der dritte, rettende Gedanke, und ich hechtete zurück zu den Wäscheleinen.

Was danach geschah, habe ich vergessen, genauso, wie ich sämtliche Details gerade neu erfinden musste, denn es war Gott sei Dank nur ein Traum und wir wissen, wie das mit Erinnerungen an Träume so ist. Das einzige, an das ich mich noch gut erinnern kann, ist das Gefühl, das mich überkam, als ich mitten auf diesem Campingplatz stand und mir bewusst wurde, dass ich splitterfasernackt war: Scham. Reine Scham.

Interessanterweise ist dies kein seltener Traum. Viele Menschen haben einen solchen an irgendeinem Punkt in ihrem Leben. Es ist eines der häufigsten Traumsymbole. Was bedeutet es? Verschiedenes. Im Zusammenhang mit dem Gefühl von Scham allerdings: Unsicherheit. Dass man Angst davor hat, für irgendetwas verurteilt oder nicht akzeptiert zu werden.

Solche Unsicherheiten rufen oft ein Gefühl der Scham in uns hervor. Jeder kennt es. Jeder weiß, wie es sich anfühlt. Jeder hat es irgendwann in seinem Leben mal an eigener Haut erfahren. Denn Auslöser können die alltäglichsten Dinge sein, wie zum Beispiel der eigene Körpergeruch. Eine Umfrage zum Thema Scham aus dem Jahr 2014 zeigt, dass besagter Geruch ganz weit oben auf der Liste schamauslösender Dinge steht, neben anderen, weniger äußerlichen Auslösern, wie das Nichteinhalten eines Versprechens, oder zu sehen, wie jemand anderem ein Missgeschick geschieht. Auffallend bei der Umfrage ist allerdings, dass sich ein größerer Anteil der Frauen zu schämen scheint, als es bei Männern der Fall ist.

Stimmt das? Schämen sich die Frauen wirklich mehr? Und wenn ja, warum? Oder sind es vielleicht schlicht die Männer, die sich schämen würden, zuzugeben, dass sie das Gefühl der Scham kennen? So oder so wären der Grund dafür Erwartungshaltungen, die in der Gesellschaft etabliert sind und einem während der Kindheit und eigentlich das ganze Leben über eingeimpft werden.

Es sind Erwartungshaltungen, die die Frauen dazu treiben, ihren Selbstwert von ihrem Aussehen abhängig zu machen, und die Männer glauben lassen, sie wären keine richtigen Männer, wenn sie sich dafür schämen würden, die Gefühle anderer zu verletzen. Das Gefühl der Scham steht den Menschen hierbei im Weg, sich frei zu entwickeln und sie selbst zu sein. Das Selbstbewusstsein kann enorme Schäden davon tragen, wenn man mit solchen Erwartungshaltungen aufwächst, und ebenfalls der Körper, wohlgemerkt. Mädchen werden aus Angst vor Fettleibigkeit und der damit einhergehenden Schande magersüchtig und Jungs, die im falschen Haushalt aufwachsen, lernen vielleicht, dass Weinen eine Schwäche ist und töten systematisch ihre Gefühle ab, damit ihnen ein solcher Gefühlsausbruch niemals passieren kann.

Viele erholen sich nie davon. Das Gefühl der Scham wird den Menschen in diesem Fall zum Verhängnis. Es ist ihnen ein einziges Hindernis.

Doch Hindernisse sind nicht immer schlecht, oder? Es gab eine Zeit, da hatte man ungehindert die Möglichkeit, einen Mord zu begehen. Und dann kam jemand daher, dachte sich, »Halt mal, macht das ein friedliches Zusammenleben nicht irgendwie schwierig?«, sagte »Stopp!« und stellte eine Mauer zwischen den Menschen und diese Möglichkeit und nannte sie »Gesetz«. Das ist doch auch ein Hindernis. Und genau wie das Gesetz, kann auch Scham einem Einhalt gebieten, wenn man kurz davor ist, etwas Schlechtes zu tun.

Die Autorin Ingrid Kupczik nannte dies in »Warum Scham eine gute Sache ist« als den Grund für die im Titel bezeichnete Hypothese. Sie schreibt, dass das Gefühl der Scham laut Daniel Fessler, eines Anthropologen von der University of California, seit der Frühgeschichte der Menschheit der »entscheidende Mechanismus« sei, »um die Zusammenarbeit in Gruppen zu etablieren und aufrechtzuerhalten«. Wer die Regeln bricht, schämt sich dafür, und infolgedessen vermeidet er von vorneherein, die Regeln zu brechen. Die These ist, dass Scham die ideale Bestrafung ist, um Menschen dazu zu bringen, einen Fehler nicht zu wiederholen. Scham kann als Antrieb dienen. Wenn man ein Verbrechen begangen hat und sich schämt, wird man alles daransetzen, Wiedergutmachung zu leisten, was einen zu einem besseren Menschen macht und gute Menschen sind nun mal schlichtweg glücklicher als schlechte. Auch kann die Angst vor Blamage uns dazu treiben, sich ins Zeug zu legen, wenn es um Arbeit oder Schule geht. Natürlich kann man es übertreiben und man endet mit einem Burn-Out heulend unter der Bettdecke, womit wir dann wieder bei den negativen Aspekten der Scham und der Angst vor selbiger wären. Aber konzentrieren wir uns einmal auf den positiven Blickwinkel: Scham ist eine Motivation, die einem die guten Noten verschaffen kann, die man braucht, um zu studieren, was man studieren will. Sie kann einem sogar zu dem Geld verhelfen, das man braucht, um reisen zu können, wohin man will.

Wenn Traume sein dürfen

Aber was genau ist eigentlich Scham? Ein Schlagstock, der uns die Kniescheiben zertrümmert, wenn wir gerade in unser Leben hineinstürmen wollen? Eine Trillerpfeife, mit der man uns zurückruft, wenn wir im Begriff sind, einen Fehler zu machen? Ein Motor, der uns hilft, ans Ziel unserer Wünsche zu kommen? Das Mittel eines Autors, um das Publikum durch Nervenkitzel oder Mitleid mit dem Protagonisten an die Geschichte zu fesseln? In der Hinsicht eine oft unentdeckte Brücke zwischen Menschen? Das alles sind Konsequenzen von Scham. Aber was ist mit den Ursprüngen? Lasst uns den Begriff einmal genauer definieren. Wikipedia sagt: »Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann, oder auf dem Bewusstsein beruhen kann [...], Normen nicht entsprochen zu haben.« Es geht also darum, etwas zu tun oder in einer Weise zu sein, die entweder von einem selbst oder von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Obwohl man natürlich argumentieren könnte, dass jemand, der sich selbst gänzlich akzeptiert hat, von keiner Norm der Welt erschüttert werden kann. Angenommen, jemand handelt sich merkwürdige Seitenblicke ein, weil er sich ungewöhnlich kleidet. Wenn er selbst absolut hinter diesem Stil steht und er keine Unsicherheiten diesbezüglich hegt, kann es ihm egal sein, was die anderen denken. Der Selbstwert hängt zwar häufig von der Wertschätzung anderer ab, aber das doch auch nur, wenn man sich selbst nicht zur Genüge wertschätzt. Scham ist in diesem Fall ein Symptom für ein geringes Selbstwertgefühl.

Das ist auch der Grund, warum Scham heutzutage in großen Teilen als Übel angesehen wird, das es zu überwinden gilt. Das Anti-Scham-Training auf der Seite »Sich zeigen lernen« – »Aus der Rolle fallen« bietet ein paar Übungen dazu an, wie zum Beispiel in der Straßenbahn laut zu singen, sich in einer Schlange vorzudrängeln, ohne Geldbeutel einkaufen zu gehen oder einen unbekannten Menschen zu fragen, ob man ihn oder sie auf eine Tasse Kaffee einladen darf. Wenn man das regelmäßig macht, dann, ja, dann würde einem die Meinung anderer egal werden. Und wenn man oft genug auf einen Hundewelpen einschlägt, dann macht einem auch das irgendwann nichts mehr aus.

Entschuldigung.

Ich denke nur, dass man da etwas differenzieren sollte. Ja, es ist hilfreich, wenn man ohne Schamgefühl durchs Leben gehen kann. Traumhaft ist das! (Es sei denn, man träumt davon, nackt auf einem Campingplatz zu stehen.) Es ist nur so, dass es nicht immer gut ist, wenn einem die Meinung anderer egal ist. Und bei diesem intensiven Training mag es sehr wohl geschehen, dass einem nicht nur die Meinung, sondern auch die Gefühle anderer egal werden. Sich in der Schlange vorzudrängeln, ist etwas, das man einfach nicht macht. Nicht, weil es peinlich, sondern weil es rücksichtslos ist. Genauso verhält es sich, wenn man laut in der Bahn singt (es sei denn, man ist wirklich gut). Außerdem kann man eine Krankheit nicht immer dadurch heilen, dass man die Symptome bekämpft. Man kann sich an alles gewöhnen. Sicher. Aber nur weil man sich plötzlich nicht mehr schämt, heißt das nicht, dass man ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt hat. Ich glaube, man könnte da ganz leicht eine ungesunde Art des Selbstbewusstseins entwickeln. Die Art, bei der man davon überzeugt ist, dass man selbst alles Recht der Welt hat, sich auf eine Weise zu benehmen, dass andere darunter leiden, und vollkommen uneinsichtig gegenüber der Kritik anderer ist, die einen eigentlich nur um etwas Rücksicht bitten wollen. Und das ist das, was Leute wiederum damit meinen, wenn sie sagen, dass Scham gut ist und dem Zusammenleben in einer Gemeinschaft zugute kommt. Tja, nun, da es Atomraketen gibt, traut man sich auch nicht mehr so einfach einen großen Krieg anzufangen. Was ich damit sagen will, ist, dass ich auch diesen Standpunkt kritisiere. Ich glaube nicht, dass Scham der Grund sein sollte, aus dem wir uns menschlich verhalten. Jeder mag das für sich selbst entscheiden, aber ich halte es für besser, wenn man sich dagegen entscheidet, einen Krieg anzufangen, weil man generell keine Menschenleben beenden möchte, anstatt dass man sich nur zurückhält, weil man die verstrahlten Konsequenzen für sich persönlich fürchtet. Dass ich mich nicht an der Kasse vordrängle, geschieht, weil ich Menschen nicht unfair behandeln will, weil ich weiß, dass es verletzend ist, wenn sich jemand so respektlos verhält, aus Mitgefühl eben. Wäre es nicht viel schöner, wenn der Zusammenhalt in einer Gemeinschaft auf Mitgefühl, Verständnis und gegenseitigem Respekt basiert, anstatt auf der Furcht vor Scham? Und wäre Schule nicht viel schöner, wenn man aus Interesse und eigenem Ehrgeiz lernen würde, anstatt aus Angst vor Blamage?

Von dem Standpunkt aus betrachtet lässt sich auch den Leuten zustimmen, die Scham für etwas halten, das man überwinden sollte. Nur, dass Scham zu eliminieren nicht der gewählte Ansatz wäre, sondern der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls, indem man lernt, sich selbst zu akzeptieren. Dann verschwindet auch die Scham mit der Zeit und eines Tages, wer weiß, in ferner Zukunft, träumt man vielleicht einen kleiderlosen Traum, ohne sich dabei einen Zauberspruch zu wünschen, mit dem man unsichtbar werden kann. Denn ohne das Gefühl von Scham bedeutet ein solcher Traum wiederum, dass man offen und frei mit der eigenen Person umgehen kann. Und das ist stets was Schönes.

Zur Autorin: Arlene Reijnders hat 2020 das Abitur an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart, gemacht und arbeitet derzeit an der Veröffentlichung ihres ersten Buches.