Der Schnee der Tiefsee

Benedikt Heyerhoff

Durch ihre Größe bieten die Ozeane Phytoplankton einen riesigen Lebensraum, in dem es in schier unzählbarer Anzahl vorkommt. Phytoplankton: das sind treibende Pflanzen, Algen und Bakterien, die Photosynthese betreiben können. Durch Photosynthese wurde die Erde erst zu dem, was sie heute ist. Während die ersten Pflanzen vor 470 Millionen Jahren entstanden, produzierten Cyanobakterien, fälschlicherweise oft Blaualgen genannt, schon vor 3,5 Milliarden Jahren Sauerstoff. Die Gattungen Synechococcus und Prochlorococcus sind die wichtigsten Gattungen der Cyanobakterien. Sie kommen am häufigsten in den vom Sonnenlicht durchleuchteten Zonen der Ozeane vor. Bakterien der Gattung Prochlorococcus spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie sind die kleinsten und häufigsten photosynthetischen Organismen auf diesem Planeten und produzieren bis zu 20 % des Sauerstoffs, der in den Ozeanen entsteht.

Prokaryoten sind einzellige Mikroorganismen ohne Zellkern, denen die Domänen Bakterien und Archaeen zugeteilt werden. Sie kommen an jedem erdenklichen Ort auf der Erde in unfassbarer Anzahl vor. Insgesamt gibt es 4–6 × 1030 Prokaryoten auf der Erde, mehr als Sterne im Universum. In einem Milliliter Küstenseewasser leben durchschnittlich 1 Million Prokaryoten, in aktiven Sedimenten der Ozeane bis zu einer Milliarde pro Kubikzentimeter Sediment. Je nach Habitat kann ein einziges Sandkorn mit bis zu Hunderttausend Prokaryoten besiedelt sein. Durch ihre Anzahl und ihre Präsenz in allen Habitaten dieser Erde sind Prokaryoten maßgeblich an Stoffkreisläufen beteiligt. Prokaryoten remineralisieren organisches Material zurück in anorganische Einzelteile wie Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor oder Sauerstoff. Eine überraschend wichtige Rolle bei den Stoffkreisläufen spielt ein oft übersehener Lebensraum – die Sedimente der Tiefsee.

In der Tiefsee ist die Biomasse, d. h. die kombinierte Gesamtmasse der Individuen pro Art, relativ gering im Vergleich zu den Oberflächenregionen, jedoch ist die Artenvielfalt unübertroffen. Die Tiefsee ist ein nährstoffarmes Habitat, dessen größte Nährstoffquelle »mariner Schnee« ist. Wenn Lebewesen aus den oberen Wasserschichten sterben, werden sie in kleine Partikel zersetzt und sinken ab. Sie werden dann als mariner Schnee bezeichnet. Andere Partikel wie Sand, Tierkot und anorganische Partikel können auch im marinen Schnee enthalten sein. Auf dem Weg in die Tiefsee, der mehrere Wochen dauern kann, bietet mariner Schnee einen Lebensraum für Prokaryoten, die die Partikel zersetzen und in ihre mineralischen Grundbausteine auflösen. Auf den Boden der Tiefsee gelangen nur ca. 3 % des ursprünglichen Materials, das für die dort im Sediment lebenden Prokaryoten die wichtigste Nährstoffquelle ist. Da nicht alle Partikel vollständig remineralisiert werden, bildet der marine Schnee eine Schicht, die durch den hohen Druck und über Jahrmillionen zu Carbonat-Strukturen wird, wie die Kreidefelsen auf Rügen. Der Fluss an organischem Material in die Tiefsee bildet eine wichtige Kohlenstoffsenke, die erhebliche Mengen an Kohlenstoff in den Tiefen der Ozeansedimente bindet.

Die Sedimente in tausenden Metern Tiefe sind ein wenig erforschter, riesiger Lebensraum von sehr hoher mikrobieller Diversität. Zwar sind Mikroorganismen der Tiefsee aufgrund der geringen Nährstoffverfügbarkeit kleiner als in Oberflächennähe lebende, sie haben aber durch ihre hohe Anzahl globale Bedeutung. Sie bilden die Schnittstelle zwischen der biologisch aktiven Oberflächenwelt und den großen geologischen Reservoirs biologisch wichtiger Stoffe. Somit spielt die mikrobielle Aktivität im Meeresboden durch eine Verkettung von Reaktionen eine fundamentale Rolle in den biogeochemischen Kreisläufen der Erde.

Durch mikrobielle Sulfatreduktion in Meeressedimenten entsteht Pyrit, das eine Hauptquelle für die Alkalität der Ozeane ist. Sie ist von besonderer Bedeutung, denn sie beeinflusst die Verteilung von CO2 zwischen Atmosphäre und Ozean, indem sie bestimmt, in welcher Form Kohlenstoff vorkommt. Die Ozeane sind die weltweit größte Senke für CO2 und speichern es in Form von Bikarbonat (HCO3-). Wenn die Alkalität sinkt, also die Ozeane durch immer mehr aufgenommenes CO2 saurer werden, wird gebundenes Bikarbonat in CO2 umgewandelt, das zurück in die Atmosphäre ausgast. Das ist nur ein Beispiel von vielen, es zeigt aber, dass Prokaryoten mit teils unscheinbar wirkenden Stoffwechselwegen die Grundlage globaler Stoffkreisläufe sind, die die Erde, so wie wir sie kennen, im Gleichgewicht halten.

Zum Autor: Benedikt Heyerhoff, Doktorand, Benthische Mikrobiologie, Institut für Chemie und Biologie des Meeres, Universität Oldenburg, ehemaliger Waldorfschüler.