Über den Menschen

Patrick Roth

Erst wenn ich mich gnadenlos sehe, wie ich bin, aufgespannt zwischen den Gegensätzen, kann ich auch für den anderen eintreten, ihm und mir gnädig sein. Erst dann nämlich erkenne ich ihn als Individuum und Mitmenschen, erst dann gründet Verbundenheit nicht auf Sentimentalitäten und zweckdienlichen »gemeinsamen Interessen«, den Schatten der Solidarität.

Endlich begrenzt in unendlichen Gegensätzen, erkennen wir, was uns zusammengehörig macht: dass ein Geheimnis uns umschließt. Der unendliche Begrenzer, der in uns Grenze sucht.

Wenn man mit der Menschenvernunft an seine Grenzen stößt, unsere Ratio erschöpft-verdrossen am Ende ist, die Ekklesiastes-Sekunde in beiden Ohren gellt und schier nicht verhallen will …

»Es ist alles ganz eitel!«

… dann ist jener Punkt erreicht, an dem die Geschichte vom Regenmacher beginnt. Richard Wilhelm, der Übersetzer des I Ging, hatte das Erlebnis C.G. Jung mitgeteilt, der in seinen Schriften davon berichtet. Wilhelm lebte in China, und die Gegend, in der er wohnte, litt unter anhaltender Dürre. In solcher Not, Lebensgefahr – denn das Überleben war nicht mehr gesichert –, griff man auf verschiedene religiöse Riten zurück. Katholiken gingen in Prozession, Protestanten auf ihre Knie, um zu beten, und die Chinesen zündeten Räucherstäbchen und schossen Salven in den Himmel, die Dürre-Geister, die überm Land brüteten, aufzustören und zu vertreiben. Ohne Folgen. Trockenheit fraß alles auf, Tag für Tag brach sie die Dinge lautlos-mürbe entzwei. Bis sich jemand erinnerte, von einem Regenmacher in einer anderen Provinz gehört zu haben. Mit dem letzten, was man hatte, stattete man einige aus, ihn herbeizuholen.

Als der Regenmacher, Tage darauf, im Dorf eintraf – wohl in einer Sänfte, denn es hieß, »er stieg aus« –, jammerte den Alten der Anblick so sehr, dass seine Züge vertrockneten, seine Gestalt mit jedem Schritt älter zu werden schien. Sofort verließ er das Dorf und ging auf eine Hütte außerhalb zu, die er für sich beanspruchte. Dahinein zog er sich nun zurück, niemand durfte ihn stören.

Drei Tage darauf zog sich der Himmel zusammen, alles verdunkelte sich, und am vierten Tag brach ein solcher Schneesturm über der Gegend los, dass sich die Leute am nächsten Morgen aus ihren Hütten schaufeln mussten.

Richard Wilhelm hatte das alles selbst erlebt und wollte erforschen, was hier geschehen war. Er ging nun hinaus zur Hütte des Alten und fragte ihn ohne Umschweife:

»Was hast Du da gemacht? Wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe nichts gemacht, schon gar nicht den Schnee«, antwortete ihm der Alte, der sah, dass ihn der Europäer hier für ein Wunder verantwortlich machen wollte. »Ich meine, was hast du in den drei Tagen in der Hütte getan?«

»Das kann ich dir sagen«, sprach der Regenmacher. »Ich komme aus einem Land, in dem die Dinge noch in ihrer Ordnung sind, dort ist alles im Tao. Als ich hier eintraf, sah ich sofort, wie alles aus dem Tao geraten und nicht mehr war, wie es der Wille des Himmels vorsieht. Auch ich war es natürlich nicht mehr und zog mich daher zurück. Drei Tage musste ich warten. Ich kehrte in mich, bis ich wieder im Tao war. Dann natürlich kam Regen.«

»Aber es ist Schnee, der da draußen fiel«, sagte Wilhelm. Bescheiden senkte der Regenmacher die Augen.

»Natürlich.«

Zum Autor: Patrick Roth ist Schriftsteller