Himmelskräfte, die auf- und niedersteigen

Andreas Höyng

Der Jahreslauf ist ein lebendiger Zeitorganismus, ein großer Atmungsprozess, der der menschlichen Atmung gleichkommt. Das Einatmen entspricht dem Herbst und Winter, das Ausatmen dem Frühling und Sommer. Die Einzelerscheinungen dieses Zeitorganismus können wir in vielfältigen Teilprozessen des Mineral-, Pflanzen- und Tierlebens wahrnehmen, in der Witterung, den Wolken, der Luft, in der Wärme und Kälte, in Sonne, Sternen und Mond. Alle Bereiche greifen ineinander, sind im Jahreslauf aufeinander abgestimmt und bilden ein einheitliches Ganzes. Sie stellen ein großes, immer neu sich bildendes und veränderndes Gewebe dar. »So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid«, spricht der Erdgeist in Goethes Faust und lässt damit ein treffendes Bild vor uns entstehen für dieses lebendige Geschehen, das uns umgibt und auf uns einwirkt.

Frühling: Die Erde wird salzig

Wir erleben den Frühling vor allem in seiner Blütenentfaltung. Veilchen, Anemonen, Narzissen, Tulpen und blühende Obstwiesen bringen uns die größte Freude im Frühjahr. Doch diese Blütenentfaltung ist nicht das Eigentliche des Frühlingsgeschehens. Es ist nur das Ergebnis der Wärme des Jahres zuvor, die den Winter über in der Zwiebel, in der Knospe am Baum, im Samen im Inneren der Erde gespeichert wurde. Frühlingsgeschehen heißt, sich wieder mit der Erde verbinden. Die Pflanzen und Keime waren im Winter ganz auf sich gestellt und nicht in einer Wechselbeziehung mit der Umgebung. Der Frühling nun ist die Zeit des beginnenden Bodenlebens und intensivsten Wurzelwachstums. In einem ersten Schritt verbindet sich die Pflanze mit der Erde. Der Geruch des Bodens verändert sich im Frühling. Erst dann tritt die Pflanze aus der Erde hervor. Wichtig für diese Verbindung mit der Erde sind der Kalk und die Kohlensäure. Sie sind die Salzbildner der Erde. Der Kalk bildet auch das Knochengerüst der Menschen und der Tiere. Wir finden ihn aber auch in Stängeln, Hölzern und Wurzeln. Es findet ein Verdichtungs- und Verwurzelungsprozess statt, der die Voraussetzung für das sprießende sprossende Leben ist, das wir als Frühling kennen.

Sommer: Die Natur kocht

Das Wachsen und das Sprossen des Frühlings ist zum Stillstand gekommen. Flimmernde Hitze liegt über dem reifenden Kornfeld. Der Rittersporn leuchtet blau, die Rosen verströmen ihren Duft, Bienen summen in den Lindenbäumen – das ist Sommer, das ist Träumen, während die Zeit still steht. Erde und Kosmos begegnen sich.

»Und hier hält die Natur mit mächtigen Händen die Bildung an und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin«, heißt es in Die Metamorphose der Pflanze von Goethe. Das Sprossende und Sprießende wird im Sommer auf seinem Höhepunkt gehemmt. Eine Wärmeschicht, die alles den Atem anhalten lässt, senkt sich von oben aus dem Kosmos herab. Das Wachstum hört auf. Es entsteht eine Pause. Der Vorgang, der zu dieser Zeit in den Pflanzen stattfindet, ist ein feiner Feuerprozess: Das Eiweiß der Pflanzen wird verbrannt und dadurch in ätherische, feinste Duftstoffe verwandelt, Harze werden gebildet. Die flüssige Stärke wird in Nektar umgewandelt und damit Nahrung für die Bienen. Dies ist ein sommerliches Feuergeschehen, in dem die Vitalität hingeopfert wird, um Farbe und Substanz zu schaffen, Nahrung für den Menschen zu bilden. Rudolf Steiner vergleicht diesen Verbrennungsprozess mit dem Kochen, nur dass es die Natur ist, die hier kocht.

Herbst: Die Asche lässt reifen

Im Herbst zeigt uns die Natur mit großer Gebärde, wie man loslässt. Rilke fasst diesen Prozess in seinem Herbst-Gedicht:

»Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.«

Die innige Durchdringung von Erdenseele und Kosmos, die im Sommer stattfindet, löst sich im Herbst wieder auf. Der dumpfe Fall des Apfels, die prasselnden Walnüsse, der Geruch von welkendem Laub, gar von Verwesung, das Kartoffelfeuer auf dem geernteten Feld: Das ist der Herbst. Die Vögel verstummen. Ein Klirren, ein Rascheln entsteht in den Blättern, in den Zweigen, aus denen sich das Leben zurückzieht.

Im Herbst reifen die Früchte. Das Ausreifen und die Aromabildung sind, was man nicht erwarten würde, Mineralisierungsvorgänge, es sind Aschevorgänge, die nicht zu Ende geführt werden. Fruchtbildung, Samenbildung heißt also im höheren Sinne Aschenbildung.

Winter: Das Wasser erhält das Leben

Die Farben sind verschwunden, die belebenden Gerüche vergangen. Alles ist grau. Die Bäume sind kahl gefegt, die Felder verlassen. Still und ruhig wird die Natur. Vom einst reichen Leben scheint nichts mehr übriggeblieben. Die Erde will im Winter erstarren, sie will Kristalle bilden durch Eis und Schnee. Doch sie erstarrt nicht wirklich. Denn der Boden ist durchsättigt mit Lebenskeimen, Tausende von Samen liegen in ihm verborgen, von denen äußerlich nichts zu sehen ist. Dass diese im Boden verborgene Zukunft nicht vergeht, dazu braucht es die belebende Kraft des Wassers und des Lichts, welche die Erde den Sommer über in sich aufgenommen hat. Das Wässrig-Merkuriale des Winters erhält die Keim-, Wachstums- und Blühbereitschaft der Erde, so dass sie nicht erstarren muss.

Das himmlische Gremium

In den genannten Vorträgen schildert Steiner, dass in den einzelnen sinnlichen Erscheinungen, den vielfältigen Prozessen – dem Vergehen, Welken, Keimen, Sprossen, Blühen und Reifen – und den übergreifenden kosmischen Funktionen – wie Ausdehnen, Zusammenziehen, Schlafen, Wachen – geistige Wesen tätig sind. Es sind die Genien der Jahreszeiten in Gestalt der Erzengel Michael, Gabriel, Raphael und Uriel. Sie strahlen in den Kosmos aus und impulsieren die Fülle der Jahresvorgänge. Sie sind eine Art himmlisches Gremium, eine Jahreszeitendelegation. Dadurch dass ihre Kräfte in den Kosmos ausstrahlen, können »Kräfte wiederum einströmen in den Menschen, den Menschen bilden« (Steiner). Diese vier Prinzipien der jahreszeitlichen Kräfte, die in der Natur ineinander weben und dadurch den Lebensstrom bewirken, finden sich auch im Lebensstrom des Menschen. Denn was in der wärmenden Kraft des Feuers als Naturprozess entsteht, wird Nahrung, die wir aufnehmen. Das Nährende wird heraufgeführt und verwandelt durch Verdauung und Atmung in ein Heilendes, es wird zum inneren Herbst des Menschen. »Ein Heilmittel ist immer heilend, weil es auf dem Wege zum Geist ist«, erläutert Steiner diesen Zusammenhang. Das Heilende wiederum wird weitergeführt, es wird zur Gedankenkraft. In der äußeren Natur ist das der Winter. Und schließlich können die belebenden Gedankenkräfte hinunterströmen als Willensimpulse.

Was im Inneren des Menschen als körperlicher und seelisch-geistiger Vorgang unablässig stattfindet, was sich unabhängig vom Äußeren vollzieht, das kann draußen als Naturvorgang angeschaut werden. Der Sommer nährt, der Herbst heilt, der Winter belebt die Gedanken, so dass im Frühjahr neue Willensimpulse in uns einströmen können. Diese Kräfte stehen nicht unverbunden nebeneinander. Eine Kraft wird in die andere metamorphorisiert und gesteigert. So eröffnet und schließt Steiner die große Imagination mit den Anfangsworten des Faust beim Anblick des Makrokosmoszeichens:

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!

Die goldenen Eimer sind selbstverständlich nicht leer. Sie beinhalten das Nährende, Heilende, die Gedankenkräfte und die Willenskräfte.

Diese Kräfte, die die Erzengel in den Menschen einfließen lassen, müssen jährlich erneuert werden. Das Ernährende, das Heilende, die Gedankenkräfte, die Willensimpulse: All das würde versiegen, wenn die Erzengel sie uns nicht immer von Neuem aus dem Kosmos zuführen würden. Es ist eine Art unbewusstes Naturgedächtnis, das Jahr für Jahr wieder aufgefrischt werden muss.

So ist der Mensch hineingestellt in den Lauf der Natur, er ist nicht herausgeworfen, trotz aller Emanzipation.

Der Kosmos blickt den Menschen an

Die Blicke und Gesten der Erzengel, wie sie Steiner in den Imaginationen schildert, sind sehr verschieden. Sie können uns zum Vorbild im Erziehungsprozess werden.

Uriel, der uns vielleicht am wenigsten vertraute Erzengel, wirkt im Sommer in der Natur; im Menschen wirkt er seelisch im Winter. Er blickt mit ernst-urteilendem Auge und einer abwärts gerichteten Geste. Er vergleicht die menschlichen Fehler mit dem, was in den reinen, leuchtenden Kristallen der Erde lebt und wirkt. Seine Gebärde ist mahnend – sie fordert den Menschen unentwegt auf, seine Fehler in Tugenden zu verwandeln.

Michael wirkt im Herbst auf die Natur ein. Wir kennen ihn aus vielen Darstellungen als den Kämpfer gegen den Drachen, als den Weg weisenden, aber auch als den Erzengel, der die Waage in den Händen hält. Er ist eng mit den Willenskräften des Menschen verbunden und wirkt im Seelenleben des Menschen im Frühling. Sein Blick hat etwas weisendes. Es ist »aktiver, ein positiver, tätiger« Blick.

Gabriel wirkt im Winter auf die Natur ein. Diesen Erzengel kennen wir aus der christlichen Ikonographie als den Engel mit der weißen Lilie in der Hand, der Maria die Botschaft überbringt, sie werde ein Kind empfangen. Sein Blick ist ein milder, liebender Blick und seine Gebärde ist segnend. Gabriel wirkt im Menschen im Sommer.

Raphael ist der kosmische Frühlingsgeist, der im Menschen im Herbst als Heiler wirkt. Bekannt ist er uns von den Radierungen Rembrandts zum Buch Tobit oder durch das Gemälde von Francesco Botticini, auf dem dargestellt ist, wie Raphael den blinden Tobias auf seiner Reise an der Hand geleitet. Neben ihm sind Michael und Gabriel. Raphael schaut mit tiefem, sinnendem Blick. Er schaut hinter die Dinge und kann dadurch ihre Heilkraft erkennen. Betrachten wir diese Blicke und Gesten als Vorbilder. Behalten wir im Sinn, dass die Erzengel immer zusammenwirken, dass eine Kraft in die andere verwandelt wird, so bekommen wir eine fruchtbare Hilfe für das Erziehen unserer Kinder. Wenn die Gebärden der Erzengel so verinnerlicht werden, dass sie zu einem unsichtbaren Seelenkleid des Erziehenden werden, dann können die jeweiligen Gebärden und Blicke jeweils zur rechten Zeit erscheinen.

Zum Autor: Andreas Höyng ist seit dreißig Jahren Gartenbaulehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.

Literatur: Rudolf Steiner: Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen, GA 229, Dornach 1989