Vor zwölf Jahren wurde ich von meinem Neffen freudig begrüßt. Er hatte eine Biographie über Salvador Dali gelesen und wollte sich mit mir darüber unterhalten. Er hatte gerade lesen gelernt und war Schüler in der ersten Klasse einer Freinetschule. Seitdem gab es in seinem Leben viele Hürden und Schwierigkeiten. »Hilfe – ich bin hochbegabt! Mit schlauen Füchsen unterwegs« – hätten seine Eltern und Lehrer dieses Buch zur Hand gehabt, wäre das für alle Beteiligten, auch für ihn selbst und sogar für manche seiner Klassenkameraden oder Freunde eine Hilfe auf seinem hindernisreichen Weg gewesen.
Das Buchprojekt entstand unter Federführung von Mathias Wais, der durch seine Beratungsarbeit in Dortmund etliche Kinder mit der Diagnose Hochbegabung kannte und um ihre Schwierigkeiten und Stärken wusste. Er richtete eine Buchwerkstatt ein und lud junge Mitautoren aus der Grundschule ein. Lukas Fabian, Anna Katharina Krause, Lisa Schenk, Jonas Schneider und Jan-Philipp Stratmann verglichen ihre eigenen Schwierigkeiten und Erfahrungen, entwickelten Fragen und führten Interviews mit betroffenen Kindern, Eltern und Lehrern. So entstand allmählich das »Erzählkummerkastenratgebererfahrungsaustauschundschreibmitbuch«. Auf unterhaltsame Art und Weise werden anhand von kleinen Erzählungen alle wichtigen Themen behandelt, die im Alltag eines hochbegabten Kindes auftauchen können. Dadurch, dass die Alltagsgeschichten einen Einblick in die Einseitigkeiten, Fragen und Nöte dieser Kinder geben, entsteht eine intensive Innenansicht ihrer Erfahrungswelt. Sie beschreiben mögliche Überlebensstrategien im Umgang mit der eigenen Andersartigkeit: vom bewussten Einbauen von Fehlern über eigensinnige, kurzweilige Rechenwege, heimliches Schachspielen im Unterricht, »Tarnkappen«-Verhalten oder Rückzüge in eine »Rückwärts-Welt«. Der Leser erfährt, wie diese Kinder die Verhaltensweisen ihrer Eltern, Lehrer und Schulkameraden erleben und welche Tipps sie haben. Auch betroffene Kinder bekommen praktische Hinweise, die ihnen helfen, mit Schwierigkeiten wie Ungeduld, Langeweile, Desinteresse von Freunden, Gerechtigkeitsempfinden, Hänseleien umzugehen.
Wer nie mit Hochbegabten zu tun gehabt hat, wird vielleicht misstrauisch. Kann all das wirklich von Kindern stammen? Vermutlich war die ordnende Hand des Psychologen daran beteiligt, jedem Kapitel ein eigenes Thema zugrunde zu legen, aber das Engagement und die Erlebniswelt der Kinder beleben und beflügeln den Text. Dahinter schwingt ihre tiefe Sehnsucht, gesehen, verstanden und angenommen zu werden. Denn jedes Kind ist einzigartig – anders und trotzdem ganz normal.
Mathias Wais: Hilfe – ich bin hochbegabt! Mit schlauen Füchsen unterwegs. In Zusammenarbeit mit Kindern der Buchwerkstatt Dortmund. 166 S., brosch. EUR 16,80. Mayer Verlag, Stuttgart 2008