Hochschulen für Waldorflehrer: Geburtstagsgeschenk für Rudolf Steiner?

Richard Landl, Peter Loebell

Antwort auf die Artikel »Rudolf Steiners schönstes Geburtstagsgeschenk?« und »Bologna statt Waldorf« in der Erziehungskunst 2/2011 und 3/2011.

Endlich erreicht der kritische Diskurs über das Verhältnis von Anthroposophie zur Wissenschaft die Waldorföffentlichkeit. Durch Beiträge wie in der Erziehungskunst 2/2011 »Rudolf Steiners schönstes Geburtstagsgeschenk?« kommt die Diskussion über grundlegende Fragen in Schwung! Die gleichen Autoren haben im Märzheft unter dem Titel »Bologna statt Waldorf« noch einmal kräftig nachgelegt: Da heißt es schon im Untertitel, dass die Ausbildung von Waldorflehrern ihren Sinn verliere, wenn sie sich den Studienvorgaben der EU anpasse. Diese These wird durch das Aufzählen einiger Strukturmerkmale begründet. Die konkrete Umsetzung wird dabei leider außer Acht gelassen.

Zunächst sei erwähnt, dass die Freie Hochschule Stuttgart 1999 staatlich anerkannt wurde; sie ist die einzige Einrichtung, die Klassenlehrer für Waldorfschulen auf Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde grundständig ausbildet und anerkannte Hochschulabschlüsse verleiht – zunächst ein Diplom und neuerdings (seit in Baden-Württemberg Diplomstudiengänge nicht mehr zulässig sind) »Bachelor« und »Master«. Welchen Wert hat eine »Waldorf-Hochschule« für die Schulbewegung?

  • Von Dozenten der Stuttgarter Hochschule wurde, zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Erziehungswissenschaftlern, eine Vielzahl von Publikationen veröffentlicht, die für das Ansehen der Waldorfpädagogik in der öffentlichen Diskussion von Bedeutung sind, denn sie zeigen, dass Waldorfpädagogen ihre Ansätze in allgemein verständlichen Worten darstellen und mit Wissenschaftlern diskutieren können.
  • Die Aussicht, einen Hochschulgrad erreichen zu können, ist für viele junge Menschen so attraktiv, dass sie sich auf dieser Grundlage bewusst für die Waldorfpädagogik entscheiden.
  • Durch die grundständige Ausbildung von Schulabgängern können die Kollegien von Waldorfschulen erheblich verjüngt und auf lange Sicht gestärkt werden.
  • An der Freien Hochschule Stuttgart konnten bzw. können überdies von 2003 bis 2011 etwa 110 Lehrerinnen und Lehrer einen Hochschulabschluss erwerben, die vorher an einem der sieben Waldorflehrerseminare studiert hatten. Ohne den Stuttgarter Abschluss hätten sie keine Unterrichtsgenehmigung erhalten.

Unsere anthroposophische Identität auch unter den Rahmenbedingungen des »Bologna-Systems« nicht zu verlieren, ist sicher eine Herausforderung. Sie stellt aber eine notwendige Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen dar. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Waldorfschulen: Trotz staatlicher Vorgaben wird deren Qualität nicht durch die Rahmenbedingungen bestimmt, sondern allein durch die Arbeit der Lehrer und ihr Vermögen, Eltern und Schüler von ihrer Arbeit zu überzeugen.

Die Behauptung, Lehrerausbildungsstätten passten sich widerspruchslos den vom Staat vorgegebenen Normen an und gäben damit ihre eigene Identität auf, wird in den erwähnten Artikeln nicht belegt. Die Autoren weisen vielmehr auf vier Problemzonen hin, die sich in der Praxis an der Stuttgarter Hochschule allerdings anders darstellen als befürchtet:

  • Ob sich der neue Abschluss eines »Bachelor Waldorfpädagogik« in der Praxis bewähren wird, bleibt abzuwarten. Bisher haben alle Studienanfänger das Ziel, einen Masterabschluss zu erreichen. Aber warum sollte es ihnen schaden, wenn sie nach drei Jahren einen ersten Abschluss erreichen können? In jedem Fall ist es für viele junge Menschen attraktiv, dass sie bereits einen anerkannten Abschluss erreicht haben, falls sie ihr Studium unterbrechen müssen (was gerade bei jungen Frauen nicht selten der Fall ist).
  • Die Bedingung, dass alle Studierenden pro Jahr eine Summe von 1800 Arbeitsstunden leisten müssen, wäre tatsächlich »krankhaft«, wenn sie so umgesetzt würde. Das ist aber gar nicht intendiert. Die Zeitvorgabe dient lediglich der Überprüfung der Studierbarkeit, also der Frage, ob die Ansprüche des Studiengangs erfüllbar sind. Wie viel jeder Einzelne tatsächlich arbeitet, wird weder vorgegeben noch kontrolliert.
  • Benotung und Rankingliste des ECTS (»European Credit Transfer Systems« – die besten 10%, zweitbesten 25%, drittbesten 30% usw.) stellen eine Beeinträchtigung jeglicher vernünftigen Lern- und Entwicklungsförderung dar. Auch von den Gutachtern wurde der Freien Hochschule geraten, auf diese Instrumente so weit wie möglich zu verzichten. Tatsächlich wird daher nur ein Modul pro Studienjahr benotet, und das Ranking wird nicht in der Abschlussurkunde, sondern nur im so genannten »Diploma Supplement« angegeben (für den Fall, dass einzelne Studierende an anderen Hochschulen weiter studieren oder promovieren wollen). Für künftige Waldorflehrer ist diese (leider notwendige) Einstufung ohne Bedeutung.
  • Wenn die Autoren behaupten, die Akkreditierung der Studiengänge durch Agenturen führe zu »erheblichen Kostensteigerungen« sollten sie einmal darlegen, welche Kosten sie dabei zugrunde legen. Aus unserer Erfahrung lässt sich diese These jedenfalls nicht bestätigen.

Im Übrigen sind die Absolventen der staatlich nicht anerkannten Lehrerseminare in weit stärkerem Maße vom Bolognaprozess betroffen, da sie in der Regel zuvor an einer staatlichen Hochschule studiert haben. Einzig das Institut in Witten-Annen bietet eine grundständige Ausbildung ohne Bachelor- und Master-Abschluss. Das Zusammenwirken und die Ergänzung der verschiedenen Formen von Lehrerausbildung erscheint sinnvoll und dient dem Bedarf der ganzen Schulbewegung, unabhängig davon, aus welcher Einrichtung die Lehrer an die einzelnen Schulen kommen. Der einseitige und polemische Angriff auf das Hochschulstudium für Waldorflehrer ist genau so wenig hilfreich, wie eine (mögliche) Diskreditierung der Lehrerseminare.

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit im Zusammenhang mit Anthroposophie hat sich Steiner selber in vielen seiner Schriften und Vorträge geäußert. Er erkennt die Methoden der Naturwissenschaft und ihre Ergebnisse auf dem Felde des Sinnlich-Wahrnehmbaren voll an, problematisiert aber andererseits, dass ohne Weiteres die am physischen gewonnenen Gesetzmäßigkeiten auf Geistig-Seelisches übertragen werden. Ungeachtet dessen macht Steiner deutlich, dass insbesondere die Strenge und Genauigkeit der naturwissenschaftlichen Methodik und das Überwinden einer rein subjektiven Betrachtungsweise die besten Voraussetzungen für einen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg bilden. Vor diesem Hintergrund beschreibt er vielfach die geisteswissenschaftliche Forschungsmethode als eine Fortführung der exakten Beobachtung äußerer Erscheinungen auf dem Felde der inneren Seelenaktivitäten. Für die Entwicklung der Waldorfpädagogik erscheint es notwendig, die Anschlussfähigkeit der Anthroposophie an heutige Erziehungswissenschaft  darzustellen. Das ist der Freien Hochschule Stuttgart in ihren Akkreditierungsverfahren gelungen, aber die entsprechenden Bemühungen müssen weiter gehen.

Wer behauptet, bei der Anerkennung von Erkenntnis- und Forschungsmethoden durch Wissenschaftler bliebe »die Wahrheit« auf der Strecke (Erziehungskunst 2/2011, S. 56), begibt sich auf ein gefährliches Terrain. Mit dieser Auffassung fordert man den Vorwurf des Dogmatismus geradezu heraus. Auch die Vertreter der Waldorfpädagogik müssen in der Lage sein, ihre Methoden transparent zu machen sowie die erreichten Erkenntnisse allgemein verständlich darzustellen und selbstkritisch zu reflektieren – drei wesentliche Kriterien der Wissenschaftlichkeit, die Rudolf Steiner selbstverständlich beachtet hat.

Links:

Rudolf Steiners schönstes Geburtstagsgeschenk
Bologna statt Waldorf