Hommage an einen Erziehungskünstler

Phillip Brändle

Auf dem Rückweg vom Bodensee, ein nicht mehr ganz neues Boot auf einem alten Anhänger im Schlepptau: Ein Loch im Reifenmantel des Trailers vergrößerte sich zunehmend – der darunter liegende Schlauch drohte zu platzen. Wahrscheinlich hätte jeder andere den ADAC angerufen und sich sofort abschleppen lassen. Er sagte nur: »Wir versuchen das erst einmal selbst.« Kurzerhand wurde das Loch geflickt. Mit Flickzeug? Weit gefehlt. Wir ließen die Luft ab, klemmten ein Stück Plastik einer alten Colaflasche zwischen Mantel und Schlauch und weiter ging die Fahrt. Eine Viertel Stunde später standen wir wieder auf dem Standstreifen der Autobahn – der Reifen war geplatzt.

Warum sollte eine solche Geschichte zeigen, dass mein ehemaliger Klassenlehrer Martin Schnabel ein guter Pädagoge ist? Ist es vielmehr nicht unverantwortlich, seinen Schüler in ein Auto zu setzen, das einen Anhänger zieht, dessen Reifen zu platzen droht? Verantwortungsbewusste Eltern sagen vermutlich: »Niemals setze ich mein Kind in dieses Auto.« Sie würden einen Fehler machen. Denn Martin Schnabel nimmt es mit auf eine Reise, die sich ein junger Mensch nicht besser wünschen kann. Er ist eine Lehrerpersönlichkeit, die auf den ersten Blick unkoordiniert und irritierend unkonventionell erscheint. Sein rosa Schlapphut, die riesige klappbare Sonnenbrille und die nicht aufeinander abgestimmten Klamotten unterstreichen dieses Bild. Der erste Eindruck trügt gewaltig. Denn die Reise mit ihm hat ein klares Ziel vor Augen: Selbstbewusste Menschen sollen seine Schüler sein, wenn sie nach der Schulzeit in die Gesellschaft entlassen werden. Niemals den Überblick verlieren, immer die Dinge hinterfragen, auch dann, wenn sie uns im Alltag als völlig »normal« begegnen. Das sind Eigenschaften, die man – ohne es zu merken – von einem Martin Schnabel gelehrt bekommt. Sicher: Mathematik, Deutsch und Geschichte gehören auch dazu. Aber ist dieses Fachwissen wirklich ent- scheidend, um heute in der Welt bestehen zu können?

Einen pädagogischen Reiseführer sucht man bei ihm vergeblich; weder in Lehrbüchern noch in Wissenschaftsmagazinen sind seine Methoden zu finden. Man findet sie im Alltag. Keine Wissenschaft kann die Individualität eines Menschen mit all seinen Facetten und Eigenheiten erfassen. Aber genau darum geht es ihm: Jeder Einzelne soll gefördert werden, keine Fähigkeit darf verloren gehen, nichts wofür sich ein Schüler begeistert, vernachlässigt werden. Er sucht förmlich nach Dingen und Tätigkeiten, die Kinder faszinieren könnten: Honig schleudern, Tomaten vorziehen, ein Gartenhaus bauen oder der Segelkurs auf dem Mittelmeer – die Liste der außerschulischen Aktivitäten scheint endlos. Über Schülergenerationen hinweg lebt in der Stuttgarter Michael Bauer Schule eine Legende: Martin Schnabel und sein Holzkohleofen. Bei Schulfesten, Zirkusaufführungen und Faschingsumzügen, auf Bazaren und Weihnachtsmärkten, die knusprigen Deien – eine schwäbische Spezialität – aus Schnabels Backofen sind heiß begehrt. Der perfekte Kopfrechner ebenso wie der geplagte Legastheniker kommen beim Backen und Verkaufen gleichermaßen auf ihre Kosten.

Einer meiner Professoren – ich studiere Ökologische Agrarwissenschaft in Witzenhausen – sagte vor kurzem in einer Vorlesung: »Das größte Übel am heutigen Bildungssystem ist, dass es Befehlsempfänger produziert und keine Problemlöser.« Damit meinte er Menschen, die es gewohnt sind, gesagt zu bekommen, was richtig oder falsch ist. Aber können wir mit »Befehlsempfängern« die drängenden Fragen unserer Zukunft lösen? Nein, dazu braucht unsere Gesellschaft Menschen, die kreativ und selbstständig denken, die Fragestellungen erfassen und sie durchdringen. Und genau das lernt man, wenn man als Zehnjähriger auf dem Weihnachtsmarkt Popcorn verkauft und plötzlich ein gigantisches Unwetter hereinbricht. Oder eben, wenn man einen Autoreifen mit einer alten Colaflasche flickt.

»Wir lernen nicht für die nächste Klassenarbeit, sondern für das Leben«, das war sein Standardspruch, besonders dann, wenn die Klasse wieder einmal ächzte, weil er kurzfristig einen Test angesetzt hatte. Trotzdem fiel die »Leistungskontrolle« nicht schlechter aus als bei Fachlehrern, die uns bereits eine Woche vorher Bescheid gegeben hatten. Natürlich wollte auch er wissen, wo seine Klasse steht, allerdings ohne Druck, denn wir sollten uns den Lernstoff nicht kurzlebig eintrichtern. Von Hausaufgaben, sturem Pauken und einer Rotstrich-Pädagogik hält Klassenlehrer Schnabel wenig. Seine Anmerkung unter den Klassenarbeiten waren dezent in Bleistift gehalten und mancher Kommentar durchaus humorvoll. »Ach, Du mein Gütester«, schrieb er beispielsweise unter eine meiner sehr eigenwilligen Konjugationen. Gut, besser, am besten – das habe ich seither nie mehr vergessen. Martin Schnabel lotet genau aus, was die kindliche Entwicklung stärkt oder was sie schwächen könnte. Ob Realschulabschluss, Fachhochschulreife oder Abitur – das Thema Schulabschluss wurde während seiner Klassenlehrerzeit niemals thematisiert.

Natürlich eckt ein Lehrer, der so arbeitet, auch an. Immer wieder kamen Befürchtungen auf, in der Schnabel-Klasse kämen die schulischen Leistungen zu kurz. Oder er lasse seinen Schülern zu viele Freiräume. Ja, das hat er. Dabei hatte er uns immer genau im Blick, begleitete unser Tun, griff nur dann ein, wenn es wirklich notwendig war. Er ist kein Mann der großen Worte, kein hochgestochener Anthroposoph, keiner, der stets das passende Steiner-Zitat auf den Lippen trägt. Martin Schnabel kennt die pädagogischen Kernaussagen Rudolf Steiners sehr genau und er denkt in Zusammenhängen. Danach handelt er auch, ohne darauf zu achten, was andere Menschen darüber denken. Das macht ihn unbequem. Und das ist gut so.

Für mich war Martin Schnabel der richtige Mann, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. Ich war kein einfacher Schüler und habe ihm als Klassenkasper das Leben oft schwer gemacht. Dennoch hat er immer an mich geglaubt, auch dann, als andere Lehrer mich schon aufgeben hatten. Danke Martin Schnabel.