Humus vom Himmel. Der Öko-Pionier Karl Tress

Mathias Maurer

Es ist hier oben einige Grade kühler als im Stuttgarter Kessel. Die Äcker sind steinig. Dass hier gute Ernten möglich sind, ist kaum vorstellbar. Ein Gebäudeensemble, das Wohnhaus, zwei Ferienhäuser, Ställe, Schuppen, eine große Hühnerschar, zwei Pferde, Traktoren – keine architektonischen Insignien zeigen den weltanschaulichen Bezug an. Der Hof wirkt so bescheiden, wie das, was uns erwartet.

Da steht er, angelehnt am Zaun, klein, drahtig, wacher Blick. Ich war von seinen Vorträgen vorgewarnt: Dieser Mann hat es in sich. Er macht Ernst mit der Geisteswissenschaft in der Landkultur, undogmatisch, eigenwillig, rastlos forschend – ein Autodidakt. Allem, was seine Sinne ihm zeigen, wenn er Erde in der Hand hält, Pflanzen pflegt und Tiere führt, will er auf den Grund gehen.

»Was darf sich heute alles Bio nennen?« fragt er, »es ist ein Sumpf!«. »Wir müssen zum Geistigen in der Landwirtschaft durchstoßen! Der Bauer muss wie ein Priester für die Naturreiche arbeiten.« Schon sind wir im Zentrum seines Arbeitsverständnisses.

Dabei fing alles ganz konventionell an. Noch auf dem Hof seiner Eltern in Bichishausen im Lautertal galt die goldene Regel: Ein guter Bauer ist, wer viel Kunstdünger verbraucht. Und Jungbauer Tress hat sich belehren lassen: »Mit Kunst-Dünger ist es eben keine Kunst, Bauer zu sein.«

Anfang der 1950er Jahre begegnete er über seinen Bruder, dem Künstler Max Wolffhügel, der 1919 von Rudolf Steiner als Kunstlehrer an die erste Waldorfschule nach Stuttgart geholt wurde, der Anthroposophie. Dieser drückte ihm die Nachschrift des Koberwitzer Kurses in die Hand, den Rudolf Steiner Pfingsten 1924 vor Landwirten gehalten hatte und mit dem er die biologisch-dynamische Landwirtschaft begründete. Damit war Tress auf eine Spur gebracht. Er stieß auf die Forschungen des Biochemikers Ehrenfried Pfeiffer in den USA, der das Phänomen, warum Pflanzen an Telegraphenmasten ohne Wurzeln leben können, beschrieb. Unermüdlich widmet sich Tress der sogenannten Nährstofffrage. Wovon ernähren sich die Pflanzen? Es kann nur aus der Luft sein.

Nährstoffe kommen aus dem Kosmos

28 Jahre lang schickt er Bodenproben nach Hohenheim zur Analyse. Fazit: Keine Minderung der Nährstoffe! Er bekommt den Auftrag von Professor Reisch, ein Arbeitstagebuch zu führen und dokumentiert akribisch Arbeitsstunden, technische Einsätze und Ernteerträge. »Warum sollte ich also düngen, wenn der Pflanze nichts fehlt und die Erträge stimmen?«, fragt sich Tress.

Die Bodenproben brachten ihm die sensationelle Entdeckung, dass die Pflanzen selbst Nährstoffe freisetzten. Dieser Befund stellte die klassische Landwirtschaftslehre auf den Kopf. Fortan düngte Karl Tress nicht mehr und dennoch war der Staighof mit seinen kargen Böden und dem rauen Klima der wirtschaftlichste Hof im süddeutschen Raum.

Den Delegationen vom Landwirtschaftsministerium bis zu den Landfrauen-Vereinen, die zu seinem Hof pilgerten, rief er entgegen: »Bauer, runter vom Traktor!« Er hatte nicht nur bei der Kartoffelernte festgestellt, dass Handarbeit sich lohnt. »Es gibt keine wirtschaftlichere Arbeit als in der Landwirtschaft, denn es wächst von selbst! Es ist gar kein Problem, aus einem Hektar Demeter Feldgemüse 15.000 Euro herauszuholen, im konventionellen Bereich wäre es nur die Hälfte. Ein Hof sollte eben nur soviel Gewinn machen, dass er die nächste Ernte erstellen kann. Und natürlich ist dieser Erfolg nicht nur den Präparaten zuzuschreiben, ich war auch ein flinker Arbeiter.«

Wir kommen zurück auf die Nährstofffrage: »Ich fragte mich also, welche Nährstoffe die Pflanzen aus der Luft holen.« Tress forschte weiter. Da die Erde von einem Mineraldampf umhüllt ist, der von Millionen von Meteoren stammt, die in der Atmosphäre verglühen, regnet es regelrecht Humus vom Himmel. Nicht vom Boden kommen die Nährstoffe, die von der Pflanze freigesetzt werden, sondern aus der Tiefe des Kosmos.

»Wenn das zutrifft, muss ich wissen, welche Gesetze im Kosmos herrschen. Haben wir eine kosmische Landwirtschaftslehre? Ja, durch Steiner. Aber findet sie konsequent Anwendung? Nein!«, bedauert Tress. Viele könnten noch nachvollziehen, dass es gut sei, nicht gegen, sondern mit der Natur zu arbeiten, aber würde das reichen? Im Einklang mit der Natur? Doch biologisch hieße nur, ein natürliches Wachstum nicht zu behindern, das von selbst geschieht. Was wäre der Kultur-, der geistige Anteil des Menschen daran? Dass man auf Kunstdünger verzichtet?

Solche Fragen stellte sich Tress, der mittlerweile über dreißig Lehrlinge ausbildete, für seine Arbeit 1989 die Staatsmedaille in Gold erhielt und zu einem gefragten Vortragsredner im In- und Ausland wurde.

Bauer sein heißt geistige Gesetze erkennen

Doch was macht ein biologisch-dynamischer Landwirt mit Steiners Aufforderung, geistig zu arbeiten? »Er verändert vor allem seinen Blick auf die Natur«, sagt Tress. Er versuche, durch seine Arbeit jedes Naturreich eine Stufe höher zu heben: Das Mineral nicht als totes Gestein anzusehen, sondern als lebendige Substanz, die Pflanze nicht als gefühlloses Grünzeug, sondern als ein Lebewesen, das seine Umgebung empfindend wahrnimmt, das Tier nicht als dumpfes Fleischmaterial, sondern als des Menschen dienender Bruder, beseelt und auf seine Weise intelligent. Der Mensch stehe wie ein führender Engel in besonderer Verantwortung, indem er lerne, diese Aufgabe gegenüber den Naturreichen im Einklang mit kosmischen Gesetzmäßigkeiten selbst zu leisten. Nur der Mensch sei in der Lage, sich in sie empathisch hineinzuversetzen, weil er selbst Teil dieser Naturreiche ist. Heute werde aber das Gegenteil praktiziert: Der Mensch drückte diese Reiche durch Mechanik, Chemie, Gentechnik, Elektronik in die Unternatur.

Karl Tress sieht seine Arbeit im Kontext einer großen menschheitlichen Aufgabe. Für ihn kann es nicht einfach darum gehen, dass man Hörner mit Kuhmist vergräbt oder Kieselpräparate ausbringt, in dem Glauben, dass dadurch die Pflanzenkräfte aktiviert würden. »Man muss die Vorgänge auch wirklich geistig durchdringen«, findet er. »Die Pflanzen sind durch die konventionelle Landwirtschaft faul geworden; durch die biologisch-dynamischen Präparate regen wir sie zur Eigenaktivität an, das gilt für die menschliche Spezies wohl nicht minder.«

Die Verwendung der Präparate steht in engem Zusammenhang mit der Wirkung der Sonnenkräfte und der Aus- und Einatmung der Erde im Sommer und Winter. Das Silizium nimmt das Sonnenlicht am stärksten auf und als Kieselpräparat unterstützt es das qualitative Wachstum der Pflanze in der beginnenden Ausatmungsphase im Frühjahr; der Kuhmist wirkt hingegen auf die Wurzelkraft in der Einatmungsphase der Erde.

Doch das ist erst der Anfang biologisch-dynamischer Möglichkeiten: »Unkraut bekommt man am besten weg, wenn man es in veraschter Form mit dem eigenen Leichnam konfrontiert. Das macht die Pflanze depressiv. Sie wird den Standort in Zukunft meiden …« Erst einmal in Fahrt gekommen, kann Tress noch stundenlang aus seinem Erfahrungsschatz erzählen. Zum Beispiel von der Kuh, die mit 70 Litern Speichelproduktion am Tag, den Boden abschmeckt und ihm über ihren Mist eine Empfindung vermittelt. Deshalb brauchte jeder Hof Tiere. Je autonomer er sei, desto besser und heilsamer für die Erde. – »Doch sind die Kreisläufe heute wirklich geschlossen?«, fragt Tress.

Landwirtschaft ist Kulturaufgabe

Der Verein für Ökologischen Landbau verzeichnet keinen bedeutenden Zuwachs an Demeterhöfen mehr. »Die Idee steht zuwenig dahinter«, lautet sein Urteil. Dies liege aber auch daran, dass der gedankliche anthroposophische Ansatz für die Landwirte zu hoch sei. Auf praktisch-fachlicher Ebene könne man da viel mehr erreichen. Andererseits müsse man wissen: Die biologisch-dynamische Landwirtschaft verliere an Stoßkraft, wenn sie ihren »michaelischen Auftrag« vergesse. »Hier geht es um Wahrheiten, nicht um Marktlücken!«, schließt Tress mit Nachdruck.

Landwirtschaft sei eine Kulturaufgabe. Dazu gehörten nicht nur die Anbauweise, sondern auch die Verarbeitung und die Vermarktung. Dazu gehöre auch, dass der Boden, die Grundlage unserer Existenz, nicht als Eigentum betrachtet werden könne. Dass er Objekt des Marktes und der Spekulation wurde, sei nicht sachgemäß, denn die Erde gehöre der Menschheit. Ich frage ihn, was er im Rückblick auf jahrzehntelange Arbeit in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft heute anders machen würde. »Ich würde mir nur den Koberwitzer-Kurs unter den Arm klemmen und ver­suchen ohne die Demeterbezeichnung zu wirtschaften.«

Karl Tress ist ein leibhaftiges Beispiel dafür, dass Bio nur dann wirklich Bio ist, wenn geistige Dynamik drin ist.