Hundert und noch viel vor

Nikola Meyerhoff

Die beiden Frauen haben die dramatischen Zeiten des Zweiten Weltkrieges miterlebt. Sie waren mittendrin, als erst die Teilung und später dann die Wiedervereinigung Deutschlands stattfand. Sie haben diverse Krisen und epochale Veränderungen der Nachkriegszeit erlebt. Wer auf eine so lange und so bewegte Lebensspanne zurückschaut, für den ist es fast schon stimmig, den hundertsten Geburtstag – beide sind 1921 geboren – unter den Umständen einer Pandemie zu feiern. Im Frühjahr konnten sie nur auf dem Balkon die Glückwünsche einiger weniger Gäste entgegennehmen, inklusive eines kleinen genehmigten Freiluft-Konzertes.

Generationen geprägt

Bis zum Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen waren Charlotte-Dorothea Moericke und Ingeborg-Maria Reps noch regelmäßig bei Veranstaltungen auf dem Schulgelände anzutreffen. Wenn sich nach einem Klassenspiel oder Schulkonzert in der Aula eine größere Menschentraube sammelte, dann waren meist sie es, die im Mittelpunkt standen. Menschen aller Altersgruppen wollten ein persönliches Wort mit den Damen wechseln, die so viele Generationen geprägt haben: Großeltern, Eltern und Schüler – fast jeder an der Schule kann von einer persönlichen Begebenheit oder einem Erlebnis der Eltern oder Großeltern mit den beiden Jubilarinnen berichten.

Alte Freundinnen

Während 1933 an den Häusern Hakenkreuzfahnen gehisst wurden und die Großmutter dem Teddy des kleinen Bruders auf dessen besonderen Wunsch hin entsprechende Armbinden nähen musste, kam die junge Inge zur Christengemeinschaft in Leipzig. Dort lernte sie »Dorle« Moericke kennen, deren Vater kurz vorher von Karlsruhe aus als Richter nach Leipzig berufen worden war. 1935 wurden die beiden Freundinnen zusammen in der Christengemeinschaft konfirmiert. Der Kontakt ging nie verloren, auch nicht, als 1939 Vater Moericke als Parteiloser an das Oberlandesgericht in Celle versetzt wurde und Inge in Leipzig blieb.

Berufsausbildung in den Kriegswirren

Charlotte-Dorothea Moericke studierte in den Kriegsjahren »Höheres Lehramt« in Freiburg, Marburg und Heidelberg. Nie konnte sie lange bleiben, immer mehr männliche Kommilitonen und Ausbilder wurden einberufen, nur ihre Fächer blieben immer die gleichen: Deutsch, Geschichte und Französisch. Statt des Referendariats stand zunächst die Arbeit in der Munitionsfabrik oder ein Direkteinstieg im Humanistischen Jungengymnasium in Celle zur Wahl. »Wir Assessorinnen mussten ständig den Unterricht in den Klassen wechseln, um die Stellen freizuhalten für die Männer, die allmählich – kriegsbedingt – zurückkamen«, berichtet die Hundertjährige. »Diese Vertretung war unbefriedigend. Wir hatten zwar viel zu tun, aber nichts auf Dauer. Das störte mich«, erinnert sie sich. Als sich auch noch ihre Verlobung auflöste, fühlte sie sich »am Kragen gepackt«, wie sie sagt. »Ich wusste, ich muss jetzt einen ganz neuen Weg gehen. Und dieser neue Weg führte mich – wie bisher ganz unorthodox und immer an den Aufgaben für den Menschen und den praktischen Erfordernissen orientiert – an die wieder eröffnete Freie Waldorfschule in Hannover.«

Neubeginn am Maschsee

»Das kann man sich nicht vorstellen, wie das damals war, als der Unterricht in der stark beschädigten Jugendherberge am Maschsee mit 150 Schülern und 15 Lehrern in sechs Klassenräumen wieder begann«, berichtet Charlotte-Dorothea Moericke. »Die Klassenräume waren so voll, dass ich nur mit eingezogenem Bauch vor der vordersten Reihe stehen konnte. Statt mich hospitieren zu lassen, hat mir Dr. Rudolph die Allgemeine Menschenkunde von Steiner mitgegeben. Ich solle die mal lesen, aber bitte in acht Tagen zurückbringen, weil die Lehrer die Bücher bräuchten. Ich habe damals bestimmt nichts davon verstanden«. Das war in der Zeit, als sie erstmals in einer 10. Klasse vertrat.

Ihre Freundin Ingeborg Reps kehrte, noch unter dem Eindruck des Arbeiteraufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, von einem Verwandtenbesuch im Westen nicht mehr nach Leipzig zurück. Nach ihrer Tätigkeit für das »Althochdeutsche Wörterbuch« an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der darauffolgenden heilpädagogischen Tätigkeit übernahm sie in Hannover direkt die beiden 9. Klassen. Die Verbindung hatte ihre alte Mit-Konfirmandin »Dorle« hergestellt.

Vieles hat sich verändert

»Wenn wir damals aus der Konferenz kamen, haben wir öfter die Nachtigallen vom Engesohder Friedhof her gehört. Das war dann schon richtige Nacht-Zeit«, sinniert Frau Reps, wenn sie sich an die alten Zeiten erinnert. Und Kollegin Moericke ergänzt: »Ja, ich habe den Eindruck, dass die Verbundenheit der Lehrer damals im Ringen um die menschenkundlichen Grundlagen unserer Pädagogik stärker war als heute. Wir hatten wahrscheinlich mehr Streit in der Konferenz als das jetzt der Fall ist, mit Türenknallen und allem. Aber wir waren trotzdem mehr verbunden. Wir hatten ja alle den Krieg, die Verfolgung und die Nazizeit erlebt. Wir waren alle hungrig, nicht nur im physischen Sinn, hungrig vor allem auch nach Bildung, nach Gemeinschaft und Beständigkeit, hungrig nach Frieden.«

»Und die Verbindung mit den Eltern war uns auch sehr wichtig«, betont Ingeborg-Maria Reps. »Es war ja üblich, dass die Klassenlehrer der unteren Klassen wirklich alle Eltern besuchten. Ich habe auch noch Eltern in der Oberstufe zu Hause besucht. Zu manchen ehemaligen Schülern habe ich auch heute noch eine Verbindung«, so die geborene Anhaltinerin.

Auch Charlotte-Dorothea Moericke fallen spontan Veränderungen ein: »Damals sind noch viele Schüler nach der 10. Klasse abgegangen. Da konnte man oft hören: Meine Tochter heiratet doch sowieso, warum soll die Abitur machen? Oder es gab die Handwerker-Familien, in denen der Sohn den Betrieb übernehmen musste. Die 11. Klassen waren daher oft viel kleiner. Ich hatte damals in der Oberstufe häufig 40 Kinder oder mehr in einer Klasse. Das ginge heute gar nicht mehr.«

Merkwürdige Hundert

Nach ihrem Gefühl zum unvorstellbaren 100. Geburtstag befragt, antwortet Frau Reps in ihrer bescheidenen und tiefgründigen Art: »Es ist ein ganz tiefer Einschnitt! Man hat so viele Erfahrungen und so viele Erlebnisse. Und doch ist es etwas eigenartig: Der liebe Mensch, der hundert geworden ist, ist ja immer noch derselbe, der er vorher war! Wenn man ständig mit Jüngeren zu tun hat, fühlt man sich dazugehörig. Bei dieser Begegnung habe ich natürlich nicht das Gefühl, so alt zu sein. Da fühle ich mich wie einer von denen«, so die Jubilarin. Sie fügt hinzu, wie dankbar sie für alles ist, was ihr geschenkt worden sei, doch bleibe noch sehr viel zu tun: »Wie die Sachlage jetzt in der Welt ist, müsste man sich noch viel mehr mit anderen zusammen als eine Welt fühlen!«

Mit Glückshaube geboren

Wenn Charlotte Moericke zurückblickt, erinnert sie sich an ihre Anfänge: »Ich kam, wie die Hebamme erzählte, mit der Glückshaube auf die Welt – und das galt schon lange als gutes Omen für das Leben des Kindes. Es waren wirre und verwirrende Zeiten. Ich selber fühlte mich aber auf stille, kaum bewusste Weise immer geschützt und geleitet.«
Nicht nur bei der Schülerschaft ist Frau Moericke – auch liebevoll »Möhrchen« genannt – bekannt und geschätzt. Sie wurde auch an viele Schulen gerufen, um Konflikte zu schlichten oder bei schwierigen Ausbildungssituationen zu unterstützen. Sie half als Patin beim Aufbau neuer Schulen, trat 1966 in die Schulleitung ein und wurde Ende der 1960er Jahre zusätzlich in den Bundesvorstand der Waldorfschulen berufen.

»Die 36 Jahre als Waldorflehrerin waren für mich eine sehr erfüllte und glückliche Zeit«, resümiert die gebürtige Pforzheimerin. »Mein Leben hat mich gelehrt, über nichts zu verzweifeln und niemandem etwas nachzutragen. Aber auch, mich persönlich nicht zu sehr verletzen zu lassen. Und der Rat von Rudolf Steiner war auch hilfreich: Wenn man Bitteres erlebt hat, dann sollte man später sehen, was daraus geworden ist. Oft war es nämlich der Beginn einer positiven Entwicklung.« Wie passend in Zeiten einer nie dagewesenen Pandemie.

Zur Autorin: Nikola Meyerhoff ist Schülermutter an der Freien Waldorfschule Hannover-Maschsee sowie Coach, Marketing-Beraterin und Texterin.