Immer wieder spielen in seine Erlebnisse Kindheitserfahrungen herein, die eine solch starke Prägung bewirkt haben, dass er nicht der sein kann, der er eigentlich ist. Er empfindet: Sein Ich steht an seiner Seite.
Von der vermutlich entscheidenden Person, der Arthur auf seinem Weg auf der Suche nach seiner eigenen Identität begegnet, Ramona, der Frau seines Bruders, erfahren wir nur ganz wenig; es ist das Wichtigste: dass sie ihn ohne Fragen einlädt, zu ihnen nach Hause zu kommen. Da steht sie wie der Deus ex machina in den griechischen Tragödien, der letztlich alle unlösbar gewordenen Probleme zum Guten wandte, unerwartet vor ihm und lädt ihn ein.
»Und dann?«
»Bleibst du bei uns zum Essen oder so.«
Und – so endet der Roman – »kommt sie außen um den Polo herum und schlägt seine Tür zu.«
Eine Tür, die nicht vor seiner Nase zuschlägt, wie all die übrigen, an die Arthur fast ein Jahr lang geklopft hat, sondern die sich hinter ihm schließt – sorgsam, einschließend. Sie sagt: Du gehörst dazu.
Davor lässt Birgit Birnbacher, 2019 Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, in kurzen, andeutenden Kapiteln Situationen aus dem Leben des Protagonisten Arthur aufblitzen, eines Jungen, der in zerrüttete Familienverhältnisse hineingeboren wird und den falschen Namen bekommt. Friedfertig und pflegeleicht wächst er als Anhängsel der Mutter auf, die ihre Stelle im Leben noch nicht gefunden hat. Fraglos ist er mit dabei, als sie mit dem neuen Lebensgefährten in eine einsame Provinz Portugals auswandert, wo sie ein Hospiz für Reiche aus dem trockenen Boden stampfen, einen Ort künstlichen Lebens in einer vertrockneten Welt. Hier finden die Eltern Erfüllung, die beiden Jungen – es gibt noch den älteren Bruder Klaus – sehen sie kaum mehr.
Rätselhaft bleibt die Geschichte von der Dreierbeziehung zwischen Arthur, seinem Freund Princeton und dem Mädchen Milla, die in dem Augenblick abrupt zerbricht, als sich die Freunde an der Universität in Barcelona gemeinsam für das Studium der Meeresbiologie eingeschrieben haben. Am Vorabend der geplanten Abreise gehen sie noch einmal zum Strand. Eine bisher erfolgreich unterdrückte Rivalität zwischen den Jungen bricht urgewaltig hervor und entlädt sich in einem Ringen unter Wasser auf Leben und Tod. Es ist aber nicht Arthur, der sein Leben verliert, sondern das Mädchen. Unbeachtet hinter dem Kampf der jungen Männer ertrinkt Milla – unbemerkt. Daran zerbrechen traumatisch die gemeinsamen Zukunftsträume.
Arthur findet sich in Wien wieder, wo die Geldnot ihn zu Straftaten treibt, von denen wir fast nur erfahren, dass er die Fähigkeit dazu Princetons Online-Fertigkeiten verdankt. Und er dafür drei Jahre lang ins Gefängnis wandert. Der Einblick in die Verhältnisse der Viererzelle, die die Autorin uns andeutet, ist kurz und heftig. Aber weil die Geschichte Arthurs nach dem Verbüßen der Strafe weitergeht, muss er wohl überlebt, vielleicht sogar Hilfe gefunden haben.
Was der Klappentext des Buches über das Ringen des Jungen, seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden, verheißt, ist ziemlich geflunkert: »Ohne die passenden Papiere und Zeugnisse lässt man ihn nicht zurück ins richtige Leben. Gemeinsam mit seinem unkonventionellen Therapeuten Börd und seiner glamourösen Ersatzmutter Grazetta schmiedet er deshalb einen ausgefuchsten Plan: eine kleine Lüge, die die große Freiheit bringen könnte.«
Börd und Grazetta, zwei vom Schicksal Gezeichnete, sind in ihrer jeweiligen Besonderheit liebenswert geschildert: anrührend die sterbende Schauspielerin, die trotz ihrer schwindenden Kräfte die Verantwortung für den aus dem Knast Entlassenen offen und heimlich übernimmt; bemitleidenswert der abgewrackte Therapeut, der nicht mehr helfen kann, mit seinem misslungenen Therapieansatz des Heldenerfindens allerdings doch erreicht, dass Arthur irgendwann zu der Einsicht kommt, dass er den Mut fassen muss, nicht ein anderer, ausgeklügelter zu sein, kein Glanzbild, sondern der, der er eben ist.
Schmerzvoll ungelöst bleibt die mit Arthurs eigenen Erfahrungen verflochtene Geschichte seines Zimmergenossen Lennox, der zwar ebenfalls aus der Haft, nicht aber aus den ihn fesselnden Schuldverhältnissen entlassen ist.
Die Lösung, die Birgit Birnbacher für Arthurs Probleme letztlich andeutet, besteht nicht in ausgefuchsten therapeutischen Ansätzen dieser oder jener Art, sondern im Beistand eines Menschen, des »Ich an meiner Seite«, der den anderen fraglos als Nächsten akzeptiert und ihn ins eigene Leben einlässt. Hier endet der Roman; hier beginnt Arthurs neue Geschichte. Sie steht nicht mehr auf dem Papier, aber sie schreibt sich in die Hoffnung des Lesers ein.
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite. Roman, 268 S., geb., EUR 23,–, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020