»Ich habe die Sonne geschluckt und den Mond«

Von Werner Kuhfuss, März 2015

Ein Kind fragt und fragt und fragt. Wir glauben, erklären und erklären zu müssen. Wie kommt es, dass Kinder damit nicht zufrieden sind, sondern immer noch mehr fragen? Weil sie nicht Antworten wollen, sondern Teilnahme. Sie wollen, dass wir Zeugen sind von dem, was sie entdecken. Und nur wenn sie unser echtes Interesse an der Sache und vor allem Bestätigung erleben, können sie das Entdeckte einordnen, es sich einverleiben und es Teil ihres Lebens werden lassen.

Foto: © stm / photocase.de

An dem Fragen der Kinder sehen wir, dass das Erkennen des Menschen eigentlich ein sozialer Vorgang ist. Erkennen heißt, sich als Teil der ganzen Welt zu erleben und das Erkannte als einen Teil von sich. »Die ganze Welt«, das ist aber auch immer der Mensch in der Nähe, der nächste Mensch. Es zeigt ihm in Freude, was es entdeckt hat, sucht in ihm nicht ganz Erkennbares in der Anlehnung an ihn bewahrheitet zu finden –, das ist Grund seines Fragens und Zeigens. So zeigt das Kind eine angeborene Urform des Erkennens, die Erkenntnisgemeinschaft. Auch wir als Erwachsene wissen, dass geteilte Freude doppelte Freude ist, geteiltes Leid halbes Leid.

Im alten Griechenland gab es die Philosophenschule der Peripatetiker, die Schule des Aristoteles, der das moderne Denken begründet hat. Sie besprachen ihre Erkenntnisse im Gehen miteinander. Sie wussten zum einen, dass das Gehen das Denken befördert, und sie wussten zudem, dass im austauschenden Gespräch das Denken besser fließt und umfassender wird. Genau das spüren fragende Kinder. Sie wollen im Zeigen und Fragen einen haben, der neben ihnen geht und im gleichen Interesse die Dinge anschaut, die jetzt gerade für sie wichtig sind.

Kommunizierende Röhren

So sagt der Sechsjährige eines Tages: »Ich habe die Sonne geschluckt und den Mond. Und da draußen ist einer, der die ganze Welt zwischen den Zähnen hält. Und das habe ich auch in mir!« Das ist unausgesprochen dann eine Frage an den ihm Nächsten, weil er nur in der inneren Bestätigung fertig werden kann mit dieser ungeheuerlichen Erkenntnis, und diese Erkenntnis will mitgetragen sein.

Das Kind erlebt in diesem dramatischen Bild unsere apokalyptische Zeit und seine eigene innere Teilhaberschaft. Nur indem wir nun nicht das kleine Kind sehen, sondern die in diese Zeit versetzte und mit dieser Zukunft versehene zeitlose Individualität und deren künftige Herausforderungen, werden wir ihm gerecht. Wir haben einen Zeitgenossen vor uns, der unser aufwachendes Miterleben fordert. Seine Frage an uns heißt eigentlich: Siehst du, was jetzt geschieht und wie verhältst du dich dazu? Darauf ist nicht mit Worten zu antworten, sondern das Kind erlebt mit seiner modernen Hellfühligkeit, dass ich verstehend aufwache durch seine Frage, ja erschrecke und mich selber prüfe. Ein verstehendes Lächeln und eine zarte genossenschaftliche Berührung verbindet uns nun in der Gegenwart.

Die wahrnehmende (bildhafte) Erkenntnis des Kindes braucht Begleitung, braucht Zeugenschaft, Geburtshilfe. Auf das Einüben sogenannter sozialer Kompetenzen können wir beim Kinde (und überhaupt) verzichten, wenn wir selber dem Kind gegenüber sozial sind und bezeugen, was es selber findet, ja erschafft. Denn jede noch so keimhafte Erkenntnisbildung ist eine einmalige und unwiederholbare Neuschöpfung, auch dann, wenn sie gleich oder ähnlich sich mit jedem Kind zu wiederholen scheint.

Wie geht das innerlich zu? Menschen sind äußerlich und räumlich voneinander getrennt. Innerlich, seelisch und geistig sind sie verbunden, wie in der Physik die kommunizierenden Röhren. Steigt in einer die Flüssigkeit oder sinkt sie, so auch in allen damit verbundenen Röhren. Die Flüssigkeit, die die Menschen verbindet, ist geistiger Natur. Da jedes Kind seiner Anlage nach hellsichtig und hellfühlend ist, nimmt es bewusst oder unbewusst wahr, was der Mitmensch denkt, fühlt, will. Wir alle hatten diese Fähigkeit als Kind. Falsche Erziehung, schlechte Bildung und ein nicht eigenständiges Denken haben uns erblinden lassen.

Geburtshelfer für Erkenntnisse

Wenn das zeigende oder fragende Kind sich bestätigt fühlt vom ernsthaft teilnehmenden Mitmenschen, und zwar wirklich und nicht durch ein pädagogisches Getue, dann geschieht im solcherart ernst genommenen Kind dies: Wie zu einer rechten Hand die linke gehört, zu einer Schale der Inhalt, wie Rot zu Grün oder Blau zu Gelb, so bildet sich im Kind ein innerliches, seelisches Komplementärerlebnis.

So wie wir als Erwachsene einer Sache gegenübertreten, die uns interessiert, und wir erst zufrieden sind, wenn wir sie verstanden haben, und dann in unserem Inneren ein »Aha!« und ein tiefer Atemzug entsteht, so geschieht dies hier zwischen dem Kind und dem Mitmenschen. Wenn der Erwachsene mit seinem reiferen Bewusstsein begreift, was das Kind noch nicht begrifflich ausdrücken kann, aber fühlt, dann wirkt dieses Begreifen des Erwachsenen im Kind wie der Handgriff einer Hebamme auf das zu Gebärende. Nur dass hier im Kind nicht ein Kind, sondern eine Erkenntnis, eine Erfahrung geboren wird. Das Neugeborene kommt vom Kind. Der bezeugende Geburtshelfer ist der Erwachsene, der umfassend erfühlt und erkennt, dass das zeigende und fragende Kind in Gebärnot ist und Beistand braucht.

So wenig wie die Hebamme etwas anderes tut, als das Neugeborene unbeschadet aus der Mutter herauszuheben und »in trockene Tücher zu hüllen« – auch das Abnabeln gehört dazu – so ist der begleitende erwachsene Mitmensch gehalten, die neugeborene Erkenntnis des Kindes nicht in das nackte und kalte Licht abstrakter Betrachtung und Erklärung zu heben, sondern mit anerkennender, wenn auch humorvoller Ehrfurcht dem Kinde sein neugeborenes Kind zu belassen.

Eine mittragende und bejahende Geborgenheitsgeste, vielleicht die Berührung der Schulter oder der Hände gehört allemal zu dieser Hebammenkunst.

Zum Autor: Werner Kuhfuss ist Kindergärtner im »Bienenkorb« im Elztal bei Waldkirch und begründete die »Kallias Schule« für gemeinsames Bewegen im Spiel. Veröffentlichungen: Grundzüge eines kulturschaffenden Kindergartens (2004); Die Waldorfkindergartenpädagogik (2005) und Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes? (2006)

Info: www.kalliasschule.de

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen