Im September 2012 wurde einem indianischen Führer in Argentinien die Ehrendoktorwürde der Katholischen Universität von Córdoba verliehen. In einer sozial und politisch feindseligen Umgebung setzt er sich in aufopfernder Weise für die Anerkennung der Rechte seines Volkes ein. Seine Dankesrede vermittelt, wo er sich als Führer seiner Gemeinschaft verortet, und deutet auf das Spannungsverhältnis hin, das zwischen Individuum und Gemeinschaft auch im modernen indianischen Kontext besteht: »Wir haben uns nie im Ich bewegt. Die indianischen Völker benutzen nicht die Nummer Eins im Sinne von ›der Erste sein‹. Die indianische Sprachweise ist immer ›wir‹, ›die Familie‹, ›meine Geschwister‹. Später wurde uns die Nummer Eins in den Mund gelegt, weil man eben die ›Nummer Eins‹ sein wollte. Dieser Egoismus, der uns verblendete, hat viele Leben zerstört, um immer die ›Nummer Eins‹ zu sein. […] Ich möchte nicht die ›Nummer Eins‹ sein, sondern ein Korn im Sand in diesem Kampf, der so lang und so hart ist. Ich möchte nicht der Einzige sein, der Beste, ich möchte, dass wir alle die besten Menschen sind. Vereint können wir noch viel mehr Dinge tun. Denn wir können nicht darauf warten, dass jemand kommt und unsere Probleme löst.« Was liegt dieser Lebenshaltung zugrunde?
Der »Gute Wille« der Wichí
Bei den Wichí-Indianern im Norden Argentiniens kann man beobachten, wie eng das Individuum an die Gemeinschaft gebunden ist. Sie wissen, dass jedes menschliche Individuum ein spirituelles Wesen in sich birgt, welches sie husek nennen. Es setzt sich im Wesentlichen aus zwei Komponenten zusammen: den Lebenskräften, die den physischen Organismus erhalten, und der Quelle des »Guten Willens«, die die nötigen moralischen Elemente für die Integration in die Gemeinschaft in sich birgt. Husek ermöglicht dem Individuum, in die physische und soziale Welt hineinzuwachsen und in ihr sein Leben zu gestalten. Es achtet auf die Integrität des physischen Körpers des Individuums ebenso wie auf die Integrität des sozialen Körpers der Gemeinschaft.
Der »Gute Wille« ist der Geist des sozialen Zusammenlebens. Er äußert sich im Geben und Teilen, im Verständnis für den anderen und dem Bewusstsein von Verbundenheit und gegenseitiger Abhängigkeit. Mag der »Gute Wille« sich auch unterschiedlich äußern, je nachdem, ob das soziale Gegenüber ein naher Verwandter, ein Freund oder ein unbekannter Besucher ist; das zugrunde liegende Prinzip ist dasselbe. Fehlende Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen und Interessen eines anderen zeugt in jedem Fall von fehlendem »Guten Willen«, was einem asozialen oder »präsozialen« Zustand des Menschen entspricht. Der »Gute Wille« fordert vom Individuum ein Bewusstsein für die negativen sozialen Folgen des Egoismus beziehungsweise des ungezähmten, zügellosen Individualismus. Für die Wichí ist der »Gute Wille« lebensnotwendig, sowohl auf individueller wie gemeinschaftlich sozialer Ebene, denn er gibt dem sozialen Zusammenhalt den Atem, der Anfang und Ziel menschlicher Existenz ist.
Auch in der Sprachgestalt kommt eine solche Grundhaltung zum Ausdruck. Besonders eindrucksvoll wird das an der Sprache der nordamerikanischen Lakota deutlich.
Das Ich in der Sprache der Lakota
Die Studien des schwedischen Linguisten Nils Magnus Holmer über indianische Sprachen liefern Aufschlüsse über die Beziehung des Individuums zu seiner Umgebung und über seine Verortung. Mit Blick auf die Sprachgestalt unterscheiden Sprachforscher zwei Positionen und Haltungen des Individuums: den »pathozentrischen« Sprachtyp, in dem das Erleiden/Erdulden stärker betont ist, und den »ergozentrischen« Typ, in dem das Handeln/Tun im Vordergrund steht. Das Kriterium, das für die grundsätzliche Unterscheidung herangezogen wird, ist die Rolle, welche das Possessiv »mein« in der Sprache einnimmt: Stimmt es eher mit dem Objekt-Pronomen »mich« überein, spricht man von einer Sprache des Erleidens.
Demnach würde der Ausdruck »mein Ruf« »mich rufen« bedeuten. Bezieht sich das Possessiv auf das Subjekt-Pronomen »ich«, so ist aktives Handeln gemeint. »Mein Ruf« heißt in dem Fall »Ich rufe«. In den pathozentrischen Sprachtypen vermeidet man nach Möglichkeit die Tatform des »Ich« als handelndem Subjekt und erblickt im Tun und Geschehen eher ein Widerfahrnis. So sagt man nicht: »Ich bin fröhlich«, sondern »Fröhlich Sein in Bezug auf mich«. Der Ethnologe Werner Müller, der sich mit dieser Frage bei den nordamerikanischen Lakota beschäftigte und bei ihnen eine pathozentrische Sprachgestalt antraf, kommt zu dem Schluss, dass diese Struktur auf eine duldende, empfangende Einstellung hindeutet, die vom Tatwillen meilenweit entfernt ist. »Denn das ›Mich‹ schmiegt sich der Welt an, das ›Ich‹ dringt auf die Welt ein; das Mich will aufnehmen, das Ich wirken; das Mich bewahren, das Ich verändern.« Die Sprachforschung zeigt: Es gibt sehr verschiedene Weisen, sich als Einzelner in der Welt zu begreifen.
Wie Indianerkinder gemeinschaftsfähig werden
Auch bei indianischen Völkern des argentinischen Gran Chaco sind Kinder schon von früher Kindheit an gefordert, sich den für unsere Verhältnisse harten Lebensbedingungen der Gemeinschaft und dem Verhalten der Erwachsenen anzupassen. Säuglinge und Kleinkinder werden gestillt, wann immer sie danach verlangen. Sind sie jedoch groß genug, um andere Nahrung zu sich zu nehmen, so essen sie nur, wenn ihnen Nahrung gereicht wird. Das ist zunächst sehr schwierig und der Übergang von der engen Obhut der Mutter zur Integration in die Gemeinschaft, die schon früh große Selbstständigkeit fordert, ist schmerzhaft. Doch die Kinder lernen so, sich in ihren Bedürfnissen zu beschränken. Denn es gibt Perioden des Mangels und des Überflusses. Zeitig wird ihnen die Tugend des Teilens vermittelt, das für die Lebensgestaltung dieser Gemeinschaften grundlegend ist. So kann man bereits bei kleinen Kindern beobachten, wie sie ihr Essen mit ihren Geschwistern teilen. Damit wird Verbundenheit, Achtung und Verantwortung gegenüber dem anderen entwickelt und der Einzelne in der Gemeinschaft verankert.
Die frühe Teilnahme am allgemeinen Alltagsleben fördert die Integration des Kindes in die Gemeinschaft. Dabei nehmen die Erwachsenen in dem, was gefordert und erwartet wird, Rücksicht auf Alter und Geschlecht. So lernen die Mädchen die Nahrungspflanzen genauer kennen, die von den Müttern und Großmüttern gesammelt und zubereitet werden: Früchte, Wurzeln, Medizinpflanzen. Die Jungen lernen, wie man Honig sammelt, fischt und jagt. Mit den Techniken werden die entsprechenden Mythen weitergegeben, die die verschiedenen Handlungen in ihren geistig-religiösen Zusammenhang stellen, die Tabus und den Respekt vor der Natur begründen. Mit Hilfe der Mythen und Erzählungen erfahren die Kinder Schritt für Schritt, wie die Welt nach den Vorstellungen ihres Volkes aufgebaut ist. So lernen sie die Werte und Normen der eigenen Gemeinschaft kennen und sich in den sozialen Netzwerken zurechtzufinden.
Doppeltes soziales Netz
Sammlerinnen- und Jäger-Völker, wie wir sie traditionell unter anderem im Gran Chaco finden, sind hochgradig abhängig von dem, was die Natur ihnen bereitstellt. In Anpassung an die Lebensbedingungen ihrer Umgebung verfügen sie über gemeinschaftliche Sicherungsnetzwerke, die sehr stabil und gleichzeitig dynamisch sind und die einzelne Mitglieder bei allen kurzfristig möglichen Veränderungen durch das Klima und andere äußere Eingriffe verorten. So ist jeder Ayoreo-Indianer Mitglied von mindestens zwei sozialen Gemeinschaften, die ihm Schutz und Versorgung gewähren: zum einen der Großfamilie, die Grundlage der alltäglichen Lebensgemeinschaft ist und deren stabiles Rückgrat die weiblich-mütterliche Verwandtschaftslinie bildet; zum anderen die Klanverwandtschaft, die durch die väterliche Linie vererbt wird.
Zentrale Integrationsperson der Großfamilie ist die mütterliche Großmutter. Sie lebt zusammen mit ihren Töchtern, deren Männern und Kindern. In der feuchten Jahreszeit kommen mehrere Großfamilien zusammen und bilden eine Gruppengemeinschaft, die sogenannte Lokalgruppe, innerhalb derer in schwierigen oder konflikthaften Situationen die Autorität eines männlichen Mitgliedes über die Großfamilie hinaus anerkannt wird.
Die Klanverwandtschaft überragt die engere, eigentliche Blutsverwandtschaft und verbindet Mitglieder in den verschiedenen Lokalgruppen miteinander. Neben vielen anderen Funktionen garantiert dieses Netzwerk, dass es für ein Individuum selbst in Gemeinden, wo es keine Blutsverwandten hat, immer Ansprechpartner gibt, an die es sich bei Besuchen wenden kann, die sich um es kümmern und für es sorgen. Weitergehende gesellschaftliche Strukturen, die über Familie, Nachbarschaft und Klanzugehörigkeit hinausgehen, sind traditionell in diesen Völkern unbekannt. Die Gesellschaft ist ausschließlich in Gruppen organisiert, innerhalb derer man sich meist persönlich oder über Dritte kennt.
Institutionalisierte Formen von Macht und Herrschaft sind kaum vorhanden. Selbst die Rolle spiritueller und politischer Führer, die Aufgaben wahrnehmen, die über die Familienverbände hinausgehen können, ist an deren spezifische Persönlichkeit und Individualität gebunden. Sie werden nicht als formale und anonyme Amtsträger gesehen und für das entsprechende Amt ausgebildet. Vielmehr sind es durch stark ausgeprägte Willenskräfte, Charakter und innere Berufung qualifizierte Persönlichkeiten. Verliert eine Gruppe ihren politischen oder religiösen Führer, so wird nicht automatisch eine Person neu gewählt oder benannt an seiner Stelle. Mit dem Verlust einer solchen Persönlichkeit können Gruppen oder Verbände sich sogar ganz auflösen, so dass eine Um- und Neuorientierung nötig wird.
Prinzipien der Lebensgestaltung
Die beschriebenen Aspekte geben Aufschluss über einige grundlegende Prinzipien im Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in diesen Gesellschaftsformen.
- Das Individuum definiert sich vorwiegend über seine sozialen Beziehungen. Es ist eingebettet in soziale Netzwerke, die es pflegen und versorgen und die es selbst erneuert und mitgestaltet.
- Über die zwischenmenschlichen sozialen Netzwerke hinaus existieren weitere »soziale« Netzwerke, zu denen auch Elemente und Phänomene der natürlichen und geistigen Umwelt gehören, mit denen der Mensch ebenfalls gemeinschaftlich, ja manchmal sogar verwandtschaftlich verbunden ist.
- Die Qualität der Lebensgestaltung des Einzelnen basiert zum einen auf dem Grad der Kenntnis der natürlichen, sozialen und spirituellen Umgebung und ihrer Dynamik, zum anderen auf der Fähigkeit eines adäquaten Umgangs mit dieser Umgebung und den gestaltenden Kräften der Welt.
- Ein gutes Leben kommt zustande, wenn durch das Handeln und Verhalten des Einzelnen der »Gute Wille« blühen kann und in der Begegnung wirksam ist.
- Der Mensch ist aufgefordert, Vielfalt und Tiefe der Wesenheit der Welt zu erkennen. Eine solche Erkenntnis ermöglicht ihm eine Lebensgestaltung in der Gemeinschaft mit Menschen und der Umwelt, die auf Verstehen und Verständnis der eigenen Qualitäten, Besonderheiten und Grenzen und die der anderen gegründet ist.
Zum Autor: Volker von Bremen ist Ethnologe, Berater für Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit mit Indianern, Netzwerker in der interkulturellen Zusammenarbeit, Ausbilder und Berater zu interkultureller Mediation und Konfliktarbeit.
Literatur:
Einzelheiten zu den Wichi bei John Palmer: Wichí goodwill: ethnographic allusions, Doktorarbeit, Oxford 1997 | Nils Magnus Holmer: Amerindian Structure Types. Observations on the System of Possessive and Personal Inflection in the American Indian Languages. »Spräkliga Bidrag«, Vol.2, Nr. 6., 1956 | Werner Müller: Sprache und Naturauffassung bei den Sioux, Berlin 1977 | Volker von Bremen: Kindheit und Jugend, in: GTZ/Inwent 2005, Indigene Völker in Lateinamerika, Düsseldorf 2005