Den Menschen an sich zu beobachten, ist so unmöglich, wie dem Verlauf einer Welle zu folgen. Was ich sehe, ist immer nur Wasser in Bewegung und genau genommen nicht einmal das, denn Wasser ist durchsichtig. Der einzige Mensch an sich, von dem ich hoffen kann, ihn in Augenschein zu nehmen, das bin ich selbst. Dies ist kaum möglich im Spiegelbild, darin liegt die Gefahr der Blendung, man kann im eignen Spiegelbild untergehen wie Narziß. Will ich mich sehen wie ich wirklich bin, dann muss ich in mich gehen, unter die Oberfläche des Seelischen hinabtauchen. Kann ich das überhaupt? Die Phantasie sagt: ja. Sie nutzt dazu ihre eigene Bildekraft. Fasse dich seelisch beim Schopf und lass dich hinab wie ein Senkblei, in die Tiefe der Eigenheit. Im Ozean des Menschseins an sich, auf dem Boden des eigenen Herzens zu landen. Lass alle Außenwelt still stehen, alle äußere Bewegung, die natürlich weitergeht – aber nicht in dir. In dir soll nur das Senkblei sein, du selbst bist in dieser Konzentration das Blei, das fällt. Lotrecht, bis es nicht mehr weitergeht. Geh einfach zugrunde in der Frage, in ihrer Eröffnung, ohne jede Antworttendenz. Sei das, was fraglich ist. Voraussetzungslos, ursprünglich, ohne jede Bedingung fragwürdig und zugleich doch so, als hinge das Leben von der Antwort ab. Anders gelangt man nicht unter die Wasserfläche des Seelischen.
Der bewusste Beobachter an Bord, der den seelischen Abstieg verfolgt und protokolliert, der muss sich gedanklich heraushalten und willentlich ganz bei der Sache, dem Untersuchungsgegenstand sein. Die Sache bin ich. Ich bin jetzt der Untersuchungsgegenstand. Was macht mich gemeinschaftsfähig?
Ich kann gar nicht anders, als bereits im Abstieg zu bemerken, dass es einen Widerstand gibt. Etwas in mir widersteht grundsätzlich der Antwortmöglichkeit, die ja in jeder Frage unausgesprochen vorliegt. Wenn ich ernst mache mit dieser Fragestellung, dann erscheint ein Widerstand. Ein logischer Widerspruch. Will ich das Menschliche an sich, in mir beobachten, dann muss ich von seiner Vollkommenheit ausgehen. Das Menschliche an sich kann gar nicht anders, als grundsätzlich gemeinschaftsfähig veranlagt zu sein. Es muss nicht dazu gemacht werden. Da erübrigt sich die Fragestellung. Will ich mich dagegen fragen nach diesem Menschlichen an sich, in mir, dann erscheint eine Verweigerung. Wie käme ich dazu, mich so in Frage zu stellen? Wer oder was bezweifelt meine Menschlichkeit? Der einzige Grund, den ich finden kann, mich so zu fragen, also einer partiellen potenziellen Unmenschlichkeit in mir selbst nachzugehen, das ist die Wirklichkeit anderer. Diese sind Fremde. Ich erlebe in der Frage eine Fremdbestimmung, die sich nicht verträgt mit der Autonomie des Menschlichen an sich. Dies ist bereits das erste Untersuchungsergebnis. Sobald ich mir die Frage nach Gemeinschaft wirklich stelle, stoße ich auf eine asoziale Regung. Ich kann mich gedanklich als gemeinschaftsfähig deklarieren und ich kann mich fühlend mit dieser Tatsache zufrieden geben, aber tief im Eigenleben des Willens regt sich etwas wie Protest. Will ich denn freiwillig gemeinschaftsfähig sein? Oder gemeinschaftsfähiger werden? Mit welchem Hintergedanken?
Ich kann mich drehen und wenden wie ich will, es ist immer der andere, der mich orientiert und bewegt. Die Fähigkeit oder Unfähigkeit wird zugesprochen. Was mich gemeinschaftsfähig macht, das entscheide nicht ich, das wird von anderen beurteilt. Ich finde in mir nichts anderes vor als Gefühle. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Angst davor, nicht zu ihr zu gehören. Wo ist in meinem Willen etwas, das Gemeinschaft um ihrer selbst willen anstrebt, ohne dass ich etwas davon hätte?
Der Grund, der hier erreicht wird, ist eine Tatsache, die Anerkennung verlangt. Es gibt ein grundsätzliches Problem in mir, also dem Menschen an sich: die Gemeinschaftsfrage ist nur soweit interessant, insofern sie meine Egoität berührt. Wenn ich mich dieser Tatsache ehrlich stelle, hört alle Ideologie und Abstraktion auf. Jedes System der Gemeinschaftsbildung, dass die Egoität verdrängen, verschleiern, kaschieren, wegmoderieren – systematisch überwinden will, führt unausweichlich zu zwanghaften Formen. Ob es esoterische oder exoterische Verfahren sind, spielt keine Rolle. Die gedanklichen oder gefühlsmäßigen Energien, die den Willen impulsieren und lenken, machen mich zu einem sozialen Wesen. Der Wille selbst in seinem Eigenleben aber ist substanziell durchzogen von Asozialität.
Wie komme ich nun dazu, diesen in Frage stehenden Bereich, diesen antisozialen Antrieb in mir selbst so zu verwandeln, dass es meine Entscheidung ist und nicht die der anderen in mir? Dass ich nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Freiheit handle. Gemeinschaft ist ja, dem Menschen notwendig, er stirbt ohne Gesellschaft. Gemeinschaftsfähigkeit als freien Überschuss, jenseits der eigenen Angewiesenheit zu entbinden, habe ich in Wahrheit nur eine Möglichkeit: das ist die Einsicht, dass es mich selbst glücklicher macht. Freier, liebevoller, menschlicher. Hier schließt sich der Kreis. Ich bin es, der Mensch an sich, der Gemeinschaft um seiner selbst willen will. Dies gilt für uns alle. Keiner ist da für die Gemeinschaft – sie ist da für uns, für jeden einzelnen, der in ihr ist, um sich selbst darin als Mensch an sich zu fühlen und weiter zu entwickeln. Wo diese Tatsache berücksichtigt wird, da kann Gemeinschaft gut gehen, da kann sie als wahrhaftiges Gebilde gelingen. Wo ich sein darf wie ich bin, da werde ich dem anderen dasselbe Recht zugestehen. Ich muss darauf bestehen, wie ich bin, denn nur so kann ich den Freiraum in mir finden, den anderen so sein zu lassen, wie er ist. Der absolute Respekt vor der Eigenheit des anderen wird beschädigt durch jegliche systemimmanente Verpflichtung und sei sie noch so geistreich oder menschenfreundlich. Es gibt keinen kategorischen Imperativ der Gemeinschaft mehr, der irgendwie tragfähig wäre. Das Einzige, was trägt, ist die Überwindung individueller Notlage. Das Unmenschliche an sich, das in uns allen liegt, verlangt, dass wir individuell Verantwortung dafür übernehmen.