Die Pädagogik soll Anlagen wecken. Wie der Waldorflehrplan individuelle Entwicklung ermöglicht

Tobias Richter

Als eine »Chose« bezeichnet in ihren Lebenserinnerungen eine ehemalige Waldorfschülerin, Roswitha Rasch, ein Erlebnis im Mathematikunterricht der 12. Klasse, kurz nach der Wiedereröffnung der Stuttgarter Schule: Eine entsetzlich lange Aufgabe galt es an der Tafel zu rechnen, wobei sich während der 60 Minuten, die das dauerte, mehrere Schüler ablösten. Gegen Ende dieser Unternehmung verwandelte sich das Gesicht des geschätzten Mathematik-

­lehrers »ins Kindlich-Treuherzige, als er sagte: ›Lieber Gott, mach, dass es stimmt!‹ Allgemeines Gelächter erlöste die einen aus ihrer Spannung, die anderen … aus ihrer Lethargie.« Keiner, nicht einmal ein Gott, konnte das redlich und mühsam ausgeführte Werk jetzt mehr ändern.

Im Rückblick bemerkt die ehemalige Schülerin eine »Nebenspur«: Was sie miterlebt und gehört hatte, war für sie, die später Priesterin der Christengemeinschaft geworden ist, eine »Super-Religionsstunde, deren Inhalt erst viel später deutlich wird: Gott selber hält sich an die dem Erdenleben eingearbeiteten Gesetze«. Etwas war geschehen, das unvergessen blieb, auch wenn es erst viel später erkannt wurde. Gleichsam unbeabsichtigt geschah eine Berührung aus einer »Zukunfts-Schicht«, die offensichtlich noch nicht in Erscheinung getreten war.

Kein Determinismus im Lehrplan

In dem von Rudolf Steiner ein Jahr nach der Eröffnung der Waldorfschule in Stuttgart gehaltenen Fortbildungs- und Vertiefungskurs für die Waldorflehrer führt er aus, dass die von ihm begründete Pädagogik niemals deterministisch angelegt sei: Der Unterricht habe nicht zum Ziel, die Schüler fachlich oder wissenschaftlich auf bestimmte Berufe vorzubereiten, sondern der Lehrer solle mit seinem Unterricht bei den Kindern Anlagen wecken, die sie bereits mitbrächten. Diese Dispositionen gelte es zu erkennen. Damit verwies Steiner auf sein Lehrplankonzept, das er ein Jahr davor so beschrieben hat: »... wir mussten uns diesem Lehrplan so nähern, dass wir uns in die Lage versetzen, ihn eigentlich in jedem Augenblick uns selber zu bilden, so dass wir ablesen lernen dem 7., 8., 9., 10. Jahre und so weiter, was wir in diesen Jahren zu treiben haben«.

Was Steiner hier als zu erwerbende Grundfähigkeit des Lehrers in Bezug auf eine allgemeine Entwicklungsdynamik skizzierte, sollte dann auch jedem einzelnen Kind gegenüber angewendet werden. Eine solche »physiognomische Pädagogik« ist möglich, wenn es den Lehrern darum zu tun ist, das Grundwort Ich-Du – wie das Martin Buber nennt – in der Begegnung mit dem Kind zu sprechen. In einer solchen Begegnung aus achtungsvoller Haltung kann dann die Intention des Schülers erscheinen, die darauf wartet, erkannt zu werden. Ihr Lebens- und Entwicklungsraum zu gönnen, war die Absicht Steiners, die in seinen Lehrplan­anregungen in Verbindung mit den Konferenz-Hinweisen zur Kinderwahrnehmung zu erkennen ist.

Aufwachen zur Eigenständigkeit

Als Caroline von Heydebrand sechs Jahre nach dem Start der Waldorfschule eine erste Darstellung ihres Lehrplanes veröffentlichte, konnte sie sowohl aufgrund seines skizzenhaften Vorgehens, als auch der Erfahrung, wie er die didaktische Gestaltungsfähigkeit der Lehrer herausforderte, anmerken, dass Steiner alles Programmatische und Dogmatische fernlag. Die Orientierung »an dem sich wandelnden Bild der werdenden Menschennatur auf ihren verschiedenen Altersstufen« stehe stets in lebendigem

Dialog mit der Schüler- und Lehrerindividualität und den jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und geographischen Bedingungen. Und in allen darauf folgenden schriftlichen Darstellungen zum Waldorflehrplan findet sich das oben genannte Motiv, »Lehrplaninhalte und Methoden konsequent in den Dienst der Individuation und Persönlichkeitsentwicklung zu stellen«.

Versucht man nun, aus den unterschiedlichen Inhalten des horizontalen Curriculums einen »Generalbass« zu formulieren, ein Motto, das in allgemeinster Form zusammenfasst oder überschreibt, was während eines Schuljahres unterrichtet wird, so können zwei unterschiedliche Bewegungen deutlich werden: aus der Offenheit und Weite der Kindheit zur Verdichtung der Tatsachenwelt mit der Geschlechtsreife und von dort in zunehmender Selbstständigkeit zur verantwortungsvollen Realisierung frei gewählter Aufgaben.

Zeichnung links: Hauptmotive der Klassenstufen 1-12 als entwicklungsdynamischer Wirbel. Die genannten Schuljahresmotti bieten den Grundklang, der die Eigenmelodie provozieren möchte, sodass das Kind sich entfalten kann.

Der Erziehungswissenschaftler Peter Schneider benennt diese sich in ihrem Lehrplan konkretisierende Absicht der Waldorfpädagogik, in der ersten seiner sieben Thesen zu ihrer Zukunftsfähigkeit als Mäeutik, als Geburtshilfe, da sie Wachstumsbedingungen herstellen möchte, »unter denen das im Kind sich verwirklichende Selbst zur Erschließung seiner Potenziale gelangt«.

Damit schließt Schneider an die Drei-Geburten-Skizze Steiners an, die er in Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft zeichnet: Nach der physischen Geburt folgt mit dem Zahnwechsel eine zweite, wobei das den Leib aufbauende und gestaltende Kräftepotenzial zu neuen Aufgaben »geboren« oder freigesetzt wird. Es bildet innere Vorstellungen und das Gedächtnis und schafft somit die Grundlage gezielten Lernens. Die sogenannte dritte Geburt findet zur Zeit der Geschlechtsreife statt, wenn die seelische Selbstständigkeit der Welt und den Mitmenschen gegenüber artikuliert und nun »auf jeweils ganz einmalige Weise die Auseinandersetzung mit erlebter Determinierung und geahnter Freiheit geführt wird«.

Das übergeordnete Thema eines Lehrplans vor der Geschlechtsreife ist demnach, den »neu geborenen« Lernkräften Nahrung zu geben, ohne dass sich das Kind dadurch der Welt entfremdet. Vielmehr soll es sich in ihr – und in sich selbst – beheimaten. Diese Welt- und Selbstbegegnung will sich in Gestalten und Schaffen, in innerlichem Miterleben und Befragen, in Kenntnisgewinn und Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten und in der Erfahrung des Könnens realisieren. Die Zeit nach der Geschlechtsreife steht unter der Herausforderung, bei den Jugendlichen die Urteilsfähigkeit auszubilden und ihnen durch den Unterricht und die Vielzahl der Praktika die Möglichkeit zu bieten, eigenständig zu werden. Steiners Auffassung nach ist es das, was der Waldorfunterricht vor allem leisten soll: »Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken.«

Betrachtet man unter diesem Aspekt die Unterrichtsthemen, so kann man bemerken, wie in deren immer neuem Anspielen – nach gehörigen Pausen des Absinkens und scheinbaren Vergessens – der junge Mensch durch Erweiterung und Vertiefung zum Erkennen finden kann. Ein einsames Geschäft – da es jeder selbst vollziehen muss:

So führt der Weg von der Ackerbau-Epoche im 3. Schuljahr, wobei alle Arbeiten, vom Pflügen und Säen bis zum Brotbacken leibhaftig ausgeführt werden, über die Begegnung mit diesem Thema in der Geschichtsepoche (5. Schuljahr), später zum Gartenbau, der Ernährungslehre und in der Oberstufe zum Landwirtschafts- oder zu einem Ök­ologiepraktikum; er führt vom Formenzeichnen über die Freihandgeometrie, das geometrische Beweisen bis zur Projektiven Geometrie. Die im Waldorflehrplan erkennbare Spiral- oder Spiegelungsstruktur erhält ihren Sinn durch das Aufwachen an wiederkehrenden Themen. Dazu müssen die Begriffe, die im Unterricht eingeführt werden, mitwachsen können.

Es ist der Lehrer – nicht (nur) der Lehrplan

Ein Lehrplan garantiert noch keinen guten Unterricht, auch wenn er noch so interessant strukturiert und freilassend formuliert ist. Es kommt immer darauf an, wen und was er anregt, daraus etwas Originäres zu schaffen – und ob dies überhaupt gewollt ist. Steiner wollte es so – und wollte auch, dass nicht nur jeder Lehrer für sich, sondern die Lehrer in ihrer Zusammenarbeit Inhalte, Themen, Unterrichtsformen für ein Fach, für eine Altersstufe – und zwar im Hinblick auf konkrete Kinder entwickeln. Eine solche lebendige Lehrplangestaltung unterstützt dann das einzelne Kind, seine Fähigkeiten und die Welt zu entdecken. Dieses allgemeine Klima der Bereitschaft, sich dem Kind zu öffnen, bedeutet Bejahung und Begrüßung. Und genau dies wird von vielen ehemaligen Schülerinnen und Schülern als essenziell für ihre Biographie beschrieben, jüngst zum Beispiel von der Theater- und Filmschauspielerin Juliane Köhler im Zeit-Magazin: »Ich habe mich gezwungen, allein auf Reisen zu gehen, um meine Ängste zu überwinden. Dass mir das dann irgendwann gelungen ist, habe ich wohl auch der Waldorfschule zu verdanken. Dort hatte man mir das Gefühl vermittelt, dass ich okay war, mit all meinen Ängsten und Schwächen.« Und sie schildert, wie sie diese Bejahung gestärkt hat und ihr die Kraft gibt, ihren Traum, Frieden zu finden, weiterzuverfolgen.

Die goldene Kugel im Wald

Die Antwort des Kindes und Jugendlichen auf diese Bejahung kann sich als Vertrauen äußern. Nur aus diesem heraus vermag das Kind seine Schätze zu zeigen – auch wenn es sie selbst noch gar nicht kennt: »Die goldene Kugel liegt im dunklen Wald. Warte nur, warte nur, du findest sie bald.« Das flüstert ein siebenjähriges Mädchen seinem künftigen Lehrer ins Ohr, der unsicher ist und zögert, ob er es sich zutraut, das Mädchen aufgrund ihrer körperlichen Behinderung in die erste Klasse aufzunehmen. Das Mädchen behielt Recht: Die »goldene Kugel« wurde gefunden – nicht zuletzt dadurch, dass auch die Lehrer Vertrauen hatten in das Mädchen und ihm im Handarbeits- oder Eurythmieunterricht beim Überwinden der Beeinträchtigung viel zutrauten und zumuteten. Tierpflegerin ist Berenike Nass geworden und schreibt, die Waldorfschule habe in ihr die Liebe zur Natur und zu den Kreaturen geweckt.

Dabei mögen Erfahrungen im zweiten Schuljahr wichtig gewesen sein beim Zuhören oder Spielen der Legende vom Heiligen Franz von Assisi mit seiner unendlichen Liebe zu den Tieren, oder die Acker- und Feldbau-Epoche ein Jahr später, vielleicht auch die Menschen- und Tierkunde im vierten Schuljahr – Marksteine auf dem Weg zur »goldenen Kugel«.

Entwicklungsförderung durch Vertrauen verlangt immer Offenheit, weil niemand weiß, was der andere aus dem Angebotenen aufgreift und entwickelt – im inneren Dialog mit der angesprochenen »Zukunftsschicht«. Dieser pädagogischen Konsequenz misst Steiner große Bedeutung bei – gerade in Bezug auf den Fortschritt der Menschheit zum Individualismus: »Vertrauen in ganz konkretem Sinn, individuell, einzelgestaltet, ist das Schwerste, was aus der Menschenseele sich herausringt. Aber ohne eine Pädagogik, eine Kulturpädagogik, die auf Vertrauen hin orientiert ist, kommt die Zivilisation der Menschheit nicht weiter.«

Zum Autor: Tobias Richter war langjähriger Klassenlehrer, Fachlehrer (Musik und Puppenspiel) und Oberstufenlehrer an der Rudolf Steiner Schule Wien/Mauer. Seit 1980 in der Waldorflehrerausbildung in Österreich und im Ausland tätig.

Literatur: R. Rasch: Wie im echten Leben, Berlin 2015; R. Steiner: Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a, Dornach 1994; R. Steiner: Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, GA 217, Dornach 1988; H. Buddemeier/P. Schneider: Waldorfpädagogik und staatliche Schule, Stuttgart 2005; T. Richter (Hrsg.): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele. Vom Lehrplan der Waldorfschule, Stuttgart 2016; M. Schopf-Beige: Bestanden. Lebenswege ehemaliger Waldorfschüler, Stuttgart 2004