Ihr Kinderlein kommet

Henning Kullak-Ublick

In vielen Märchen erfreuen wir uns an dem jüngsten von drei Brüdern, dem Dummling, der von den klugen Älteren zuerst verspottet und ausgetrickst wird, am Ende aber immer die Prinzessin und ein Königreich gewinnt. Allein: »Es war einmal …« – war das einmal? Muss sich die Prinzessin bald mit einem der beiden älteren Brüder zufrieden geben – weil seiner Familie die Last, einen Dummling versorgen zu müssen, nach einer pränatalen oder Präimplantations-Diagnose (PID) als unzumutbar abgenommen wurde?

In Kürze wird der Deutsche Bundestag darüber entscheiden, ob die PID zulässig ist, ob also künstlich befruchtete Eizellen auf genetische Anomalien getestet und bei deren Vorliegen abgetötet werden dürfen. Alle Abgeordneten sollen allein ihrem Gewissen folgen und ohne Fraktionszwang abstimmen. Moralisch ist also alles korrekt.

Wieder einmal geht es darum, im Namen des Fortschritts Leid abzuwenden: von der Mutter, dem ungeborenen Kind, der strapazierten Familie, der Ehe, der Karriere, der Gesellschaft, dem Steuerzahler.

Allerdings ist die pränatale (vorgeburtliche) Diagnostik bereits heute längst medizinischer Standard. Wird beispielsweise durch eine Fruchtwasseruntersuchung festgestellt (was von der 16. Schwangerschaftswoche an möglich ist), dass ein Kind Trisomie 21, also das Down-Syndrom hat, kann die Schwangerschaft auch im weit fortgeschrittenen Stadium abgebrochen werden – zum Schutz der Mutter, wie es heißt.

Bei der aktuellen Debatte geht es vordergründig um die Frage, ob eine künstlich befruchtete Eizelle vor etwas geschützt werden muss, was bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft längst legale und gängige Praxis ist. So verwundert es nicht, dass die Befürworter der PID denjenigen Bigotterie vorwerfen, die jetzt auf einmal moralische Bedenken anmelden.

Weniger vordergründig geht es um eine ganz andere Frage: Wollen wir das perfekte Kind – das »Kind ohne Anomalien« – irgendwann vielleicht nach einem genetischen Design unserer Wahl?

Wir können uns angesichts der normativen Kraft des technisch Machbaren nicht um die Frage nach dem Wesen des Menschen herumdrücken. Ein materialistisches Menschenverständnis führt notwendig zu einem Menschenbild, das Behinderung und Krankheit als Defizite werten muss: Der Mensch als biologische Maschine, die um ihrer Funktionsfähigkeit willen vor Defekten geschützt werden muss. Das hatten wir alles schon einmal!

Menschliche Kultur ist aber immer eine Steigerung – und oft auch eine Überwindung – unserer Natur aus der Tätigkeit unseres Geistes.

Nicht weniger bigott als die Unterscheidung zwischen künstlich und natürlich befruchteten Eizellen ist die Tatsache, dass wir neuerdings zwar über die Inklusion, also die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen reden, zugleich aber dafür sorgen, dass wir erstere schon loswerden können, bevor sie überhaupt geboren sind. Die Botschaft ist so klar wie zynisch: Liebe Behinderte, wenn ihr nun schon mal da seid, kann man´s halt nicht ändern, aber eigentlich wollen wir uns vor euch schützen.

Bald ist Weihnachten. Auch Christi Geburt stand im Zeichen von Ausgrenzung und Verfolgung. Dreiunddreißig Jahre später sagte er: »Was ihr für den geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan.« Nur: Wer ist überhaupt der geringste?

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)