Im richtigen Moment da sein. Gewaltprävention in heilpädagogischen Einrichtungen

Volker Thon

Beleidigungen, Mobbing, Schläge, Erpressung und sexuelle Übergriffe werden als Gewaltformen anerkannt, die verhindert werden müssen. Die subtile Gewalt eines strafenden Blickes, einer zynischen Bemerkung, einer erotisierten Berührung wird aber allzu oft übersehen, baga- tellisiert, geleugnet oder gar gerechtfertigt. Über die alltäglichen, unbewussten und unbeabsichtigten Verletzungen – wenn wir jemanden nicht beachten, über ihn reden oder über ihn lachen – machen wir uns nur selten Gedanken. Jede unserer Handlungen kann einen anderen Menschen verletzen und von ihm als Gewalt erlebt werden. Jeder von uns wird in seinen Grenzen verletzt und verletzt die Grenzen eines anderen. Es ist unmöglich, Gewalt allgemein und objektiv zu definieren. Um sie jedoch zu verhindern, brauchen wir ein einheitliches Verständnis dessen, was genau verhindert werden soll. Das Recht, zu bestimmen, was als Verletzung erlebt wird, muss jedem einzelnen zugesprochen werden. Dies gelingt nur, wenn wir uns darauf verständigen, dass Gewalt vorliegt, wenn ein Mensch bewusst oder unbewusst physisch oder psychisch verletzt wird.

Gewalt hat viele Gesichter

Diese Einsicht verunsichert. Was bleibt dann noch, wird sich der eine oder andere fragen, der mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen verantwortlich Alltag gestalten will. Was kann ich dann noch tun, wenn alles Gewalt ist? Professionelles Betreuungshandeln greift grundsätzlich in die Persönlichkeitsrechte der begleiteten Menschen ein und kann verletzen. Es gibt keine einfachen Lösungen, denn Gewalt im betreuenden Alltag hat viele Gesichter. Sie zeigt sich in unterschiedlichen Stufen: Als Grenzverletzungen, die aus fachlichen oder persönlichen Unzulänglichkeiten oder einer »Unkultur der Grenzverletzungen« resultieren. Als Übergriffe, die Ausdruck eines unzureichenden Respekts, grundlegender fachlicher Mängel, struktureller Probleme, Über- forderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder einer gezielten Desensibilisierung im Rahmen der Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs oder eines Macht­missbrauchs sind. Oder als strafbare Handlungen wie Körperverletzung, sexuelle Ausbeutung, Erpressung und (sexuelle) Nötigung. Gewalt zeigt sich in unterschiedlichen Formen durch Verletzung der körperlichen, seelischen, verbalen, sexuellen, materiellen Grenzen und gedeiht in einem Umfeld, in dem die Reflexion über eigenes Handeln erschwert oder verhindert ist. Unklare, diffuse, autoritäre oder verwahrloste Strukturen bilden in Institutionen den Nährboden für Gewalt. Gewalt hat unterschiedliche Auslöser. Bei genauer Betrachtung ist sie Ausdruck eines Ungleichgewichtes im Machtverhältnis zwischen zwei Menschen. In der Beziehung zu anderen Menschen ist uns nicht gleichgültig, was der andere denkt, fühlt oder will. Wir unterwerfen uns seinem Willen oder beeinflussen ihn in unserem Sinn.

Von der Macht zur Eigenmacht

Ziel einer Beziehung im professionellen Kontext ist es, die Menschen in unserer Obhut dazu zu bewegen, den Weg in die Eigenmacht (Selbstständigkeit) zu finden. Wir nutzen unsere Macht durch gezielten Einsatz, im Sinne einer Unterstützung zum Mündigwerden. Wir nutzen sie aber auch, unseren Willen durchzusetzen und schlimmstenfalls unsere egoistischen Interessen zu befriedigen.

Wir stehen fortwährend in der Gefahr, uns selbst anderen auszuliefern (Ohnmacht) oder andere ohnmächtig zu machen (Übermacht). Reflektieren wir unsere Handlungen nicht, verlieren wir die Grundrechte der uns anvertrauten Menschen aus den Augen. Wir haben kaum gelernt, uns über diese Themen auszutauschen. Wie ungern geben wir eine Grenzverletzung oder gar einen Übergriff zu. Wie schwer fällt es uns, im Gespräch mit anderen, eigenes grenzverletzendes Handeln zu beschreiben. Und wie froh sind wir auch, wenn wir unsere Not in der Ohnmacht an anderer Stelle besprechen können. Wie wünschenswert ist eine Institutionskultur, in der Fehler begrüßt und als Lernchancen anerkannt werden. Wie hilfreich ist es, Rechtssicherheit in schwierigen oder gar eskalierenden Situationen zu erhalten. Gerade schwierige Situationen bieten sich an, den Austausch über unsere Handlungen und ihre Verhältnismäßigkeit zu führen. Wir sind aufgefordert, unseren Kollegen im Sinne einer beherzten Kollegialität unsere Wahrnehmungen zu spiegeln und grenzverletzendes Handeln zu benennen. In Überforderungssituationen brauchen sie Entlastung durch unsere Unterstützung und Hilfe.

Die Leitungsverantwortlichen müssen klare Strukturen schaffen und Verantwortung eindeutig zuweisen. Das Wohl und der Schutz der uns anvertrauten Menschen gebietet sicheres Handeln in bedrohlichen Situationen. Die Menschen in unserer Begleitung müssen wir befähigen, ihre Rechte wahrnehmen zu können. Ihre Beteiligung und die Aufklärung über Persönlichkeitsrechte ist ein Mittel zur Verhinderung von Gewalt.

Eine Vertrauensstelle ist ein Instrument zur Prävention und Intervention bei Grenzverletzungen, Übergriffen oder strafrechtlich relevanten Handlungen. Sie bietet kollegiale Beratung, kann Vorfälle unabhängig und diskret bearbeiten, in Konflikten schlichten, notwendige Konsequenzen veranlassen.

Für die Einrichtungen und Dienste des Anthropoi Bundesverbandes anthroposophisches Sozialwesen e.V. haben Fachstellen Vorschläge zur Entwicklung entsprechender Strukturen erarbeitet. Diese Fachstellen bilden Vertrauenspersonen aus, fördern deren kollegialen Austausch durch Intervisionsgruppen und Supervision, beraten die Institutionen des Verbandes zur Prävention und Intervention bei Gewaltvorfällen und unterstützen sie in der Krisenkommunikation nach außen.

Kürzlich lief ich in Eile durch die Schule. Im Flur standen ein Lehrer und ein Schüler. Die Situation wirkte angespannt. Später bedankte sich der Lehrer bei mir, dass ich im richtigen Moment vorbei gekommen sei: »Als ich dich sah, fiel mir ein, dass ich doch ganz anders mit meinen Schülern umgehen will.«

Hinweis: Das »Kompendium Gewaltprävention« des Anthropoi Bundesverbandes können Sie auf der Homepage www.verband-anthro.de einsehen und herunterladen.

Zum Autor: Volker Thon, Dipl. Sozialarbeiter, arbeitet im Sozialen Dienst in einer Werkstatt für behinderte Menschen (Bauckhof Stütensen e.V.), ist externe Vertrauensperson in einer Förderschule für seelenpflege-bedürftige Kinder (Friedrich-Robbe-Institut), und freier Mitarbeiter in der Fachstelle für Gewaltprävention Region Nord.