Outcome und Standards sind keine Bildung

Erziehungskunst | Worin besteht der Unterschied zwischen Bildung und einer Ware?

Jost Schieren | Waren unterliegen Standards und Normen, die eine gleichbleibende, vergleichbare und prognostizierbare Qualität sichern sollen. Der Outcome ist vorgegeben. Bildung hingegen ist auf den Menschen gerichtet. Sie ist somit ein offener Prozess. Eine festgelegte Outcome-Orientierung mittels Bildungsstandards behindert die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

EK | Was ist Bildung aus der Sicht der Waldorfpädagogik?

JS | Die Waldorfpädagogik will Kinder so fördern, dass sie sich zu freien Menschen entwickeln können. Sie wählt einen ganzheitlichen Ansatz, der Kinder nicht aussortiert und alle Fächer als gleichwertig behandelt; der darum bemüht ist, die Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen der Schülerinnen und Schüler optimal anzusprechen und zu fördern.

EK | Was ist Bildung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht? Wo liegen die Übereinstimmungen und Widersprüche?

JS | Die gegenwärtige Erziehungswissenschaft hat keinen einheitlichen Bildungsbegriff, sie ist sehr heterogen und vieles, was an deutschen Schulen realisiert wird, sieht auch die Erziehungswissenschaft zum Teil sehr kritisch. Das politisch gewollte Bildungssystem in Deutschland ist zu einseitig kognitiv und intellektuell bestimmt. Eine emotionale und soziale Bildung kommt darin kaum vor. Außerdem fehlt neben der Betonung der MINT-Fächer eine gleichwertige ästhetische und handwerkliche Bildung.

EK | Inwiefern ist das »Menschenbild« für den Bildungsbegriff entscheidend?

JS | Ein Menschenbild, das wesentlich ökonomisch geprägt ist, führt dazu, dass Aspekte wie Nachhaltigkeit, ökologische und soziale Verantwortung, freie Persönlichkeitsentwicklung und künstlerisch-inspirative Kraft kaum eine Bedeutung im Bildungsprozess haben. Hier setzt die Waldorfpädagogik andere Akzente.

EK | Bildung soll nach Rudolf Steiner frei von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen sein. Wie kann das verwirklicht werden?

JS | Steiner ging es darum, dass die Akteure im Bildungsprozess möglichst selbstbestimmt handeln können. Dies garantiere die größtmögliche Qualität der Bildung. Der Freiraum der Waldorfschulen in Deutschland ist relativ groß, wenn man dies beispielsweise mit den Niederlanden vergleicht. Aber der Preis dafür ist, dass Waldorfschulen nur als Privatschulen existieren und daher eher eine bürgerliche Klientel ansprechen. Das war nicht der Sinn und das Ziel der Waldorfschule. Sie sollte eine Schule für alle sein. Das ist wichtiger, als die größtmögliche Unabhängigkeit vom Staat anzustreben.

EK | Was empfehlen Sie konkret, wie sich Waldorfschulen in dieser Frage positionieren sollen?

JS | Ich erachte es für ein vorrangiges Ziel, dass die ungewollte soziale Selektion der Waldorfschulen überwunden wird. Dieses Ziel sollte – falls nötig – dem Bedürfnis einer größeren Unabhängigkeit vom Staat übergeordnet werden.

EK | Sehen Sie einen Widerspruch zwischen waldorfpädagogischen Zielsetzungen und staatlichen Abschlüssen?

JS | Die Schülerinnen und Schüler, die auf die Waldorfschule gehen, leben in unserer Gesellschaft und werden dort ihren Berufsweg antreten und verfolgen. Waldorfschulen sind verpflichtet, die Schülerinnen und Schüler so gut wie möglich auf das Leben und den Beruf in unserer Gesellschaft vorzubereiten. Daher benötigen sie Abschlüsse, die gesellschaftlich vollständig anerkannt werden und für die sie sich nicht rechtfertigen müssen. Der mittlere Abschluss oder das Abitur greifen relativ spät in der Waldorfschule. Das tut zwar weh, ist aber vertretbar und die erfolgreichen Abschlüsse der Waldorfschüler bestätigen, dass es in dieser Form funktioniert.

Ich halte demgegenüber einen eigenen Waldorfabschluss für einen Irrweg, der für die Schüler mehr Probleme als Vorteile schafft. Es ist zudem sehr wichtig, dass nicht nur die Abiturienten optimal gefördert werden, sondern in gleicher Weise auch diejenigen, die den mittleren Abschluss anstreben. Die Einrichtung von Waldorfberufskollegs ist ein wertvoller Schritt in diese Richtung.

Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer.