Immer dümmer

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser,­

PISA hat es mehrfach bestätigt: Das deutsche Bildungssystem vertieft die sozialen Unterschiede – und mit ihnen den Bildungsgrad – statt sie zu nivellieren. Ohne einem ehemaligen Bundesbank-Vorstand oder einem Humangenetiker das Wort zu reden: Die Deutschen werden immer dümmer. Bis in die 1990er Jahre stieg der Intelligenzwert um rund drei Prozent pro Jahrzehnt. Seither fällt er. Die bildungsfernen Schichten kommen nicht aus ihrer Lage heraus, so der Nationale Bildungsbericht. Noch streiten sich die Experten über die Ursachen schwindender Intelligenz. Einig sind sie sich jedoch da­-rüber, dass weniger genetische Faktoren, sondern zunehmend die Lebensgewohnheiten der Menschen und die Bildungssysteme selbst Intelligenzschwankungen verursachen.

Eine epochale Entwicklung kehrt sich um: Sozialforscher wie Volkmar Weiß (»Die IQ-Falle«) oder Tatu Vanhanen und Richard Lynn (»IQ and the Wealth of Nations«) gingen noch davon aus, dass hohe Intelligenz mit Wohlstand und niedrige mit geringem Einkommen und Arbeitslosigkeit korreliere. Der neuseeländische Politologe James Flynn stellte hingegen fest, dass Wohlstand und Dekadenz verdumme. Die Motivation, zu lernen und sich zu verändern, nähme deshalb ab, weil die Lebensumstände uns nicht mehr herausforderten. Da erscheinen US-amerikanische Studien, nach denen Sioux-Indianer bei IQ-Tests besser abschnitten als ihre weißen Landsleute, in einem anderen Licht. Kinder von Eltern, denen es immer gut geht, stellt Siegfried Lehrl, Direktor von der Psychiatrischen Klinik Erlangen-Nürnberg, fest, haben jedenfalls ein Motivationsproblem.

Eine Antwort auf die Frage, was Intelligenz eigentlich ist, findet man in den Dummling-Märchen der Brüder Grimm. Nicht auf Wissen und Erfahrung kommt es bei den »Aufgabenlösungen« an, sondern auf die Motivation, ja, auf die Gesinnung der Prüflinge. In »Die weiße Taube« erlöst der Dummling – es ist immer der jüngste der drei Brüder – die verwunschene Prinzessin durch seinen Gottesgruß.

In »Die Bienenkönigin« ist es das Mitleid mit den Tieren, die ihm helfen, die schier unlösbaren »Bedingungen« des Königs zu erfüllen. In »Die drei Federn« folgt er der Bitte des hässlichen Frosches, ihn aufzunehmen und mit ihm ins Wasser zu springen. In »Die goldene Gans« schenkt der Dummling seinen »Kuchen« dem alten grauen Männchen und gewinnt durch seine Barmherzigkeit. In diesen vier Märchen spielen in den Schlüsselmomenten nicht weltliche Klugheit und routinierte Lebenspraxis die entscheidende Rolle, sondern »innere« Werte – Seelenintelligenz.

Rechnete man zurück, der IQ-Quotient unserer Vorfahren, die diese Märchen erzählten, müsste an Schwachsinnigkeit gegrenzt haben, oder sind wir heute schon zu dumm, ihre märchenhafte Botschaft zu verstehen?

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer