Impromärchen statt Instagram

Cornelie Unger-Leistner

Eine Märchenstunde, bei der die Zuschauer jeden Alters begeistert mitmachen: Mütter spielen die große Kröte mit einem grünen Kopfputz, Väter schlagen emsig Stein auf Stein, um hörbar zu machen, wie der Königssohn hinaus in die Welt reitet, und Kinder huschen verkleidet als Elfen oder kleine Geißlein im Saal herum. Wie kann das sein im Zeitalter von Youtube und Instagram?

Zu erleben ist die ungewöhnliche Veranstaltung im Kulturprogramm des anthroposophischen Centro de Terapia auf Lanzarote, wenn Gundula Harlan mit ihrem Märchenklangtheater den Saal des Centro füllt. Und erstaunlicherweise sind die Mehrzahl der Besucher Erwachsene.

Seit mehr als vierzig Jahren ist Gundula Harlan mit ihrem improvisierten Klangtheater unterwegs – entwickelt hat sie es in ihrer Zeit auf Burg Sternberg in Ostwestfalen Lippe, wohin es sie als junge Frau zusammen mit ihrem Mann Klaus Harlan verschlagen hatte. Dieser stammte aus einer Familie von Instrumentenbauern aus dem Vogtland. Nach dem Tod des Vaters übernahm der ehemalige Waldorfschüler die »Musikburg« zusammen mit seinem Bruder. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Vater dort ein Museum für alte Instrumente eingerichtet, einschließlich eines Angebots an Konzerten und Veranstaltungen.

Gundula Harlan erinnert sich: »Nachdem ich in die Musikburg eingeheiratet hatte, musste ich ja dort meinen Platz finden. Da ich schon zwei Kinder hatte, konnte ich bei den mittelalterlichen Konzerten nicht mitmachen, da hätte ich ja täglich viele Stunden üben müssen. So fing ich mit Handpuppentheater an.« Auch hier gab es schon eine Tradition auf der Burg: Seit 1946 wurde dort die mittelalterliche Puppentheaterversion des »Dr. Faustus« gespielt, die Goethe zu seinem Werk inspirierte.

Die heilende Wirkung von Märchen hatte Gundula Harlan zuvor bei ihrer heilpädagogischen Ausbildung in Eckwälden kennengelernt. Auf die Idee, das Ganze mit Instrumenten zu verbinden, kam sie durch ihren ältesten Sohn. Er hatte zum vierzehnten Geburtstag ein Schlagzeug bekommen und probierte es in einer gemeinsamen Improvisation mit einer Handpuppe des Dr. Faustus aus. Dies kam so gut bei den Zuschauern an, dass Gundula Harlan begann, Märchenspiel und Instrumente zu kombinieren. Improvisationen mit den Instrumenten waren zuvor schon bei den Führungen auf der Burg eingesetzt worden. »Die Renaissancemusik auf der Burg war aber für die Kinder zu schwer verdaulich, da brauchten wir sowieso noch ein anderes Familien-Angebot«, berichtet Gundula Harlan.

Das Klangtheater kam da gerade recht. Die Kombination aus selbstgebauten Instrumenten, Verkleidungen und Märchen der Gebrüder Grimm wurde auf der Musikburg zum Erfolgsmodell. »Zeitweise hatte ich über hundert Kinder in meinem Klangtheater, alle haben begeistert mitgemacht«, erinnert sie sich.

Instrumente selber bauen

Nach dem Tod ihres Mannes ist Gundula Harlan auf die Kanareninsel Lanzarote übergesiedelt. Das Klangtheater hat sie mitgenommen, auch einige Instrumente, die in einen Koffer passten, wie die singende Säge, Schleuderhörner, eine große Zimbel und buntgefärbte Tücher für die Theaterbühne. Masken aus Pappmaché, Kostüme, Samba-Ratschen, afrikanische Trommeln und viele weitere Instrumente fand sie auf der Kanareninsel.  Sie bastelte die Instrumente aber auch mit Ferienkindern, zumal sie nur einfache Instrumente benutzt, die jeder selbst herstellen kann. Die Instrumente liefern den »Sound« zur Märchenerzählung und erzeugen jene ausgelassene und fröhliche Atmosphäre, die die Besucher des Klangtheaters schnell ergreift.

Wie man das alte Instrument »Rummelpott« aus Joghurtbechern und Strohhalmen herstellen kann, erläutert Gundula Harlan ihrem aufmerksamen Publikum. Beim Erzählen der herzergreifenden Geschichte vom »Fingerhütchen« untermalt das Publikum damit dann das Seufzen und Leiden des buckligen Helden auf seinem weiten Weg. Durch eine »singende Säge« lässt sie den Nachtgesang einer Katze bei den Bremer Stadtmusikanten oder den Wind aufheulen, und wenn Fingerhütchen dann vor dem Hügelgrab einschläft und tausend und abertausend feine Elfenstimmen singen hört, begleitet das Publikum mit Gläsern, die mit nassen Fingern am Rand angerieben werden, den unterirdischen Geistergesang.

Das Lied der Elfen erklingt noch bis in die Ferienwohnungen der jungen und alten Besucher.

Verzaubert werden

Requisiten wie Schleier, Kronen, Tiermasken, die an das Publikum verteilt werden, tun ein Übriges, um alle in eine märchenhafte Stimmung zu versetzen, wenn zum Beispiel bei den »Drei Federn« die Königssöhne einen goldenen Teppich oder den schönsten Ring herbeibringen müssen oder die »Bremer Stadtmusikanten« die Räuber erschrecken, die auch von den anwesenden Erwachsenen gespielt werden.

Wie erklärt sich nun Gundula Harlan den anhaltenden Erfolg ihres Klangtheaters? »Es ist vermutlich genau das, was die Menschen heute brauchen, das Heilende der Märchen, verbunden mit der eigenen Aktivität und den vielfältigen Klängen. Wichtig sind auch die verschiedenen Rollen, in die man schlüpft. Das trägt zur Ich-Bildung bei, es wirkt erdend. Das kann man alles auch nachlesen in den pädagogischen Schriften Rudolf Steiners.«

Durch die moderne Form des Improtheaters und den Einbezug der Instrumente gibt es offensichtlich für das Publikum vielfältige Möglichkeiten, sich mit dem alten Märchenstoff zu verbinden. Gerne gibt die 75-jährige Künstlerin ihre Erfahrungen an jüngere Menschen weiter. Das Klangtheater eigne sich auch sehr gut für Projekte an Waldorfschulen, meint die langjährige Waldorfmutter, die auch einen Waldorfkindergarten in Ostwestfalen gegründet hat.

»Heilung« ist generell ihre Lebensaufgabe, das merkt man auch, wenn man das typisch kanarische Haus betritt, das sie seit mehr als vierzehn Jahren in Playa Quemada bewohnt. Das Interesse an Geologie und Geomantie gehört dazu sowie ein Wissen um alte atlantische Kraftplätze und Höhlen aus der Megalithkultur.

Vor diesem Hintergrund bietet sie auch Wanderungen in der Vulkanlandschaft mit ihren elementaren Erscheinungen von Licht, Schatten, Feuer, Erde, Wasser und Wind an. Zu ihrem Arbeitsgebiet gehört das Heilen mit Pflanzen, Tieren und Steinen. Zur Zeit erschließt sie sich ein altertümliches Saiteninstrument, das Monochord, das bei der Tao-Klang-Massage zum Einsatz kommt.

Man könnte sagen, Gundula Harlan sucht im Ein-Klang mit sich und der Welt die Heilung.

Zur Autorin: Cornelie Unger-Leistner ist freie Journalistin und Sozialpädagogin.