Individuelles und Gemeinsames

Christof Wiechert

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderbar ist das Leben gemischt.

In den Vorträgen zwischen Weihnachten und Neujahr, Dezember 1922, schildert Rudolf Steiner die menschliche Konstitution im Verhältnis zu den Jahreszeiten (GA 219). Dabei kommt er zu einer überaus überraschenden Schilderung der alten »Sommermysterien«, die er als aristokratisch charakterisiert, wohingegen die »Wintermysterien«, einen demokratischen Charakter hätten und unserer gegenwärtigen Zeit zugeordnet werden könnten.

Man erinnere sich an Steiners Charakterisierung der Konferenz der Lehrer als eine demokratisch-republikanische Angelegenheit. Mit anderen Worten, im Kulturleben, wozu ja bekanntlich die Schulen zählen, sollten die Kulturschaffenden (hier die Lehrer) sich selbst organisieren. Eine der Folgen dieser Selbstorganisation ist die Lehrerkonferenz. Betrachten wir die Wirklichkeit in der Schule.

Da ist ein Lehrer oder eine Lehrerin, beide sind erfolgreiche Klassenlehrer. Was heißt das – erfolgreich? Es heißt, sie tragen, ganz unaufgeregt und unsichtbar, die Schar ihrer Schüler »mit sich«. Sie sind in ihnen oder vielleicht um sie herum, auf jeden Fall sind sie da. Sie denken an ihre Schüler, befragen sie, wie es denn in der Schule und zuhause gehe, ob das Lernen denn funktioniere, ob es Fragen gebe, ob sie sich wohl fühlen. Es ist die eine Wirklichkeit. Die andere Wirklichkeit ist im Klassenzimmer. Dort hat der Lehrer die Schüler nicht mehr in oder um sich, sondern vor sich. Und man spricht, lernt, arbeitet, schreibt, rechnet, denkt nach, malt, singt zusammen – kurz, man lebt zusammen ein lernendes Leben. Und das geht so den Tag durch, bis man die Schüler wieder verabschiedet. Sie gehen nach Hause, und der Lehrer ist wieder alleine und hat jetzt die Erfahrungen des Schultages mit den Schülern wieder in oder auch um sich.

Es ist ein großer Atem, vielleicht sogar wie ein Jahreswechsel zwischen innen und außen, Sommer am Tag, Winter – wenn man alleine ist mit all seinen Erfahrungen und Gedanken, mit allen Schülern in oder vielleicht auch um sich – in der Nacht. Im genannten Vortrag wird weiter differenziert: Die leibliche Offenbarung sei frühlingshaft; die der Lebenskräfte sommerlich; die seelische herbstlich; und die Offenbarung des Winters sei die des Ichs. – Das sind mächtige, in innere Bewegung setzende Gedanken – der Mensch als Spiegel der Welt. Nun gehen diese Kollegen in die Konferenz. Man stelle sich das ein wenig imaginativ vor: Alle Kollegen kommen in diese Zusammenkunft und haben alle in oder um sich die Erfahrungen, Erlebnisse mit ihren Kindern oder Schülern in der Schule. Das ist dann, imaginativ betrachtet, eine sehr große Zusammenkunft! Physisch beschränkt sie sich auf 30 oder 50 Anwesende oder auch mehr, je nach Größe der Schule. Man spürt Steiners Aussage über die Teilnahme an der Konferenz, »Konferenzen sind freie republikanische Unterredungen. Jeder ist darin Souverän« (GA 300a). Tatsächlich, diese Aufgabe und das, was von den Kollegen »getragen« wird, macht sie zum Souverän. Jeder Kollege hat auf diese Weise seine »Umgebung«. Die Souveränität endet da, wo das gemeinsame Wohl der Schule in Betracht kommt. Da entscheidet nicht der souveräne Kollege, da entscheidet die Gemeinschaft der Lehrer (GA 300c, S. 274).

Nun hat der eine Kollege einen Schüler, dem bestimmte Lernvorgänge nicht gelingen, oder der ein Verhalten zeigt das er nicht versteht. Kurz, dieser Schüler wirft Fragen auf, die er nicht lösen kann. Da er Teil der Lehrer-Republik, der Gemeinschaft der Lehrer ist, entschließt er sich, die Kollegen zu fragen, ihn bei der Lösung dieser Fragen, den Schüler betreffend, zu helfen. Und nun geschieht es, dass er aus sich heraus den Kollegen mitteilt, was das Rätsel dieses Schülers für ihn darstellt. Und die Kollegen hören zu, befragen ihre eigenen Erfahrungen, »dann aber werden diese Lehrerkonferenzen wirklich zur hohen Psychologieschule« (GA 310, S. 95).

Die Bedingung dazu schildert Steiner aus seiner eigenen biographischen Erfahrung: »Ich kann schon sagen, dass ich weiß, was ich dem Umstande verdanke, dass mir eigentlich niemals ein Mensch uninteressant war. Schon als Kind war mir niemals ein Mensch uninteressant. Und ich weiß, ich hätte nicht jenen Knaben erziehen können, wenn mir nicht alle Menschen interessant gewesen wären« (GA 310, S. 94). Der genannte Knabe war der Sohn der Familie Specht, in der Steiner als Hauslehrer arbeitete. Den Jungen, der aufgrund seiner Gesundheit als unbildbar galt, brachte er zur Hochschulreife. Das Interesse gibt den Schwung, »in Psychologie zu wirken«. Der Wesenszusammenhang drückt sich bei Kindern leiblich aus, so dass der Lehrer bei besonnener Wahrnehmung am Äußeren einen Einblick gewinnt in das Innere, in die innere Beschaffenheit. Und so entsteht in der Konferenz, im Kreise der Kollegen ein Sich-Austauschen, ein Sich-Absprechen und Empfehlen, es entsteht die Kinder- oder Schülerbetrachtung. Eine merkwürdige Nebenwirkung dieser Arbeitsweise ist, dass alle Kollegen spüren, dass das, was sie innerlich an Erfahrungen, an Überlegungen zu ihren eigenen Schülern in sich tragen, wie belebt wird. Von dieser Arbeitsweise geht etwas ungemein Belebendes aus. Wenn einer unter den Kollegen da ist, der sagt, »was Sache ist«, bleibt diese kollegiale Arbeit leicht auf der Strecke. Von der Konferenz in dieser Potenz aufgefasst, sagt Steiner: »Und so ist der Inhalt der Konferenzen nicht nur die Einrichtung der Schule, sondern eine lebendige Fortführung der Pädagogik an der Schule selbst, so dass die Lehrer fortwährend lernen. Dadurch wird die Konferenz die Seele der ganzen Schule« (GA 310, S. 96).

Viele Kollegen haben diese Erfahrung gemacht, wenn eine Kinder- oder Schülerbetrachtung gelungen ist und man Vorschläge gemacht hat, dem Schüler die richtige Hilfe zukommen zu lassen, nicht nur der eine Lehrer etwas gelernt hat, sondern alle bereichert worden sind. So gehen die Kollegen wieder auseinander, um am nächsten Morgen die Schüler wieder vor sich zu haben, und noch mehr zu sehen und zu erleben als am Tag zuvor. Dies war die  Innenperspektive. Wechseln wir zur Außenperspektive: Die Kinder- oder Schülerbetrachtung ist ein lang verkanntes, aber sehr wirksames Instrument der pädagogischen Selbsthilfe. Das reguläre Bildungswesen will Qualität durch Differenzierung erzielen. Für jedes Problem, für jede Frage gibt es eine Speziallösung, Spezialhilfe. Erziehungskunst heißt, Qualität durch gemeinsame Beratung erzielen. Darum erweiterte Steiner das Lehrerkollegium durch einen Schularzt, später durch einen Heileurythmisten.

Probleme selber lösen

Es kommt immer einmal vor, dass ein Schüler einem ein Rätsel bleibt, wodurch die Lern- und Entwicklungsziele in Verzug geraten. Man kann eine solche Fragestellung »outsourcen«. Die Erfahrungen sind gespalten: Einerseits ist man das Problem los, anderseits hat sich gezeigt, die Ergebnisse eines solchen Vorganges des Outsourcens sind in aller Regel enttäuschend. Da können die Schulen eine Qualitätsoffensive beginnen: Erziehungsprobleme selbst lösen! Es wird dem Selbstwertgefühl des Kollegiums zugute kommen, wenn festgestellt wird, die Vorschläge die gemacht worden sind, das Erziehungsproblem zu beheben, waren erfolgreich! Was braucht es beim (Klassen-) Lehrer, um das zu bewerkstelligen? Ein bewusstes Verhältnis zwischen innen und außen. Was man an Erfahrungen, an Bildern seiner Schüler mit sich trägt, was man sozusagen in sich und um sich hat, mitteilbar machen für den Kreis der Kollegen. Da liegt eine Schwelle. Man muss sich ein Stück weit  öffnen, damit der Kreis mitdenken und beraten kann. Man gibt etwas aus seinem Innern preis, denn rein objektiv geht der Vorgang nicht; als Lehrer ist man immer Teil des Ganzen. Der Kreis aber hat die Aufgabe den rechten Schutz zu bieten, damit Wesentliches verhandelt werden kann, man nicht unausgesprochen im Persönlichen stecken bleibt. Wichtig ist deshalb, dass eine Kinder- oder Schülerbetrachtung einen Gesprächsleiter hat, der sich in der Materie auskennt. Eine Aufgabe, die, wenn sie gelingt, dem Kollegium Auftriebskräfte gibt. Jede Konferenz muss auch Auftriebskräfte hervorrufen können! In dem oben genannten Vortrag gibt es auch Hinweise für die Beratung zu einer ganzen Klassenkonferenz. Bei einer solchen Beratung gilt das zuvor Gesagte noch stärker: Können die Kollegen sich ein Bild machen von der Eigenart eines Klassenzusammenhanges, ohne es zu einer Art Abrechnung zu machen mit den unliebsamen Eigenarten des Klassenlehrers? Auf diesem Felde ist, neben Ersprießlichem, auch viel gesündigt worden. Der Lehrerberuf ist tatsächlich auch der eines großen Atems, zwischen Innen und Außen, was auch das Oben und Unten mit einschließt. Und man kann mit Recht sagen: Du danke Gott, wenn er dich presst und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt!

Zum Autor: Christof Wiechert war Waldorflehrer und Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.

Literatur:

R. Steiner: Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt; Die geistige Kommunion der Menschheit, GA 219, 12. Vortrag, 31.12. 1922 | Ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, Dornach 2019, GA 300a, b, c; siehe Ende der ersten Konferenz vom 8.9.1919 | Ders.: Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik, GA 310, S. 94