In Bewegung

Wir brauchen das Schulfach Kommunikationsethik!

Angelika Lonnemann

Bernhard Pörksen analysiert das Verhältnis von Gesellschaft und Medien. Er stellt fest, dass die Autorität des klassischen Journalismus schwindet: «Die Lügenpresse-Schreie werden lauter und Nachrichten verwandeln sich in frei umherwirbelndes Informations-Konfetti. Jeder ist zum Sender geworden. Auch der gerade noch einsam vor sich hin rasende Wutbürger findet blitzschnell Bestätigung und gute Gründe für die eigene Erregung – ohne dass seine Beweise einen Realitätsfilter passiert haben müssten.

Kurzum: Das Ethos des einzelnen ist heute so bedeutsam wie nie, weil alle zu Beteiligten geworden sind. Das ist die große, noch unverstandene Bildungsaufgabe der digitalen Zeit.» Nach den Pro-Brexit-Feldzügen, dem Wahlsieg Donald Trumps mit Hilfe von Putins Trollen, nach der Pandemie-Infodemie und im Gewirbel der Fake-News zum Ukraine-Krieg könne man drei Tatsachen feststellen: «Erstens destabilisiert die systematische Verschmutzung der Informationskreisläufe überall auf der Welt Demokratien und verleiht antiliberalen Auftrieb, wie zahlreiche Studien im Detail zeigen. Zweitens sind die asymmetrischen Wahrheitskriege skrupelloser Populisten im Verbund mit den Fehlanreizen der sozialen Netzwerke – Dissens schüren, aufpeitschen, emotionalisieren – geeignet, die Fähigkeit von Politik und Gesellschaft zu untergraben, aktuelle Großkrisen zu lösen. Denn diese Krisen (man denke beispielhaft an den Klimawandel) setzen einen basalen Realitätskonsens, einen gemeinsamen Fokus und ein Denken in der langen Linie voraus. Wenig ist also gerade jetzt so nötig wie die Kombination von Konsens, Kompromissfähigkeit, Konzentration und langfristiger Strategiebildung. Drittens ist offensichtlich, dass Desinformation tötet, und zwar ganz direkt und unmittelbar. Denn irgendwann greifen die QAnon-Spinner zu den Waffen oder stürmen das Kapitol. Irgendwann schießen die Reichsbürger um sich».

Gegenwehr dringend erwünscht

Pörksen fordert anlässlich der gewaltigen Desinformationskosten, die in den letzten Jahren offensichtlich geworden seien, eine entschiedenere, schärfere Gegenwehr der offenen Gesellschaft. «Die Gewaltaufrufe in den Katakomben der Telegram-Kanäle müssen mit anderer Härte und Geschwindigkeit verfolgt werden. Aber im Akt der Bekämpfung von Desinformation verteidigt eine Demokratie immer auch ihre eigene Würde und ihre eigenen Werte. Sie muss also schon in der Art der Auseinandersetzung zeigen, dass sie den Aufklärungsgedanken nicht verloren gibt. Und eben darin liegt die eigentümliche Schönheit jeder Bildungsidee: Sie setzt bis zum absolut endgültigen Beweis des Gegenteils auf das bessere Argument, die Kraft des Diskurses».

Schläfereffekt durch Propaganda

Pörksen stellt fest, dass in sozialen Netzwerken Informationen unterschiedlicher Güte, Qualität und Herkunft relativ unterschiedslos zusammenfließen: «Das Katzenvideo rivalisiert direkt mit Spektakel-News und tatsächlich bedeutsamen Nachrichten. Und schließlich gilt, dass Menschen die konkreten Inhalte ohnehin länger im Gedächtnis behalten als die Quellen, aus denen diese stammen. Das heißt, Nonsens-Botschaften aus dubiosen Kanälen, die man einfach nur endlos wiederholt, gewinnen allmählich unvermeidlich an Glaubwürdigkeit, weil ihre unseriöse Herkunft zunehmend verblasst, vergessen wird. Das ist der Schläfereffekt der Propaganda, ihre immanente Dominanz». Facebook, Suchmaschinen wie Google und Dienste wie Twitter definiert Pörksen als Zwitter-Medien, als «publizistische Machtinstanzen in einem schwer fassbaren Grau- und Grenzbereich. Mal geben sich ihre Betreiber neutral und tun so, als seien ihre Algorithmen stumpf vor sich hinrechnende Gerechtigkeitsautomaten. Dann wieder wird bekannt, dass sie willkürlich redaktionelle Entscheidungen treffen, Todesdrohungen und Hass-Postings ignorieren, aber die Löschanträge von einzelnen Lobbygruppen bevorzugt behandeln».

Medienmündigkeit und zweite Aufklärung

Pörksen sieht die Gesellschaft vor der enormen Aufgabe, Bürger:innen zu medienmündigen Menschen zu machen, und will damit in der Schule beginnen: «Wenn man die Betrachtung von Medientechnologie, digitaler Ökonomie und menschlicher Psychologie zu einer Schlussfolgerung verdichtet, dann lautet diese: In der gegenwärtigen Mediensituation zeigt sich ein gigantischer, gesellschaftspolitisch noch überhaupt nicht entzifferter Bildungsauftrag, eine noch unverstandene Herausforderung. Es ist nötig, den Umgang mit Informationen und eine allgemeine Kommunikationsethik schon in der Schule einzuüben – auf dem Weg zu einer Medienmündigkeit und einer zweiten Aufklärung, die die kommunikativen und medialen Bedingungen der Aufklärung selbst greifbar werden lässt.

Zu den Idealen und Prinzipien einer redaktionellen Gesellschaft, für die ich in meinem Buch plädiere, gehört, dass die Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung wird. Dazu zählt: die Prüfung von Quellen, von Faktizität und Relevanz; das Bemühen um Proportionalität, also der Versuch, eine Sache nicht größer zu machen als sie ist; die Maßgabe, sich nie nur auf einen einzigen Informanten zu verlassen, sondern stets auch die andere Seite zu hören; eine gesunde Portion Skepsis und ein Bewusstsein für die eigenen blinden Flecken und Vorurteile. Eben weil jeder, das Smartphone in der Hand, zum Sender geworden ist, sollte auch jeder lernen, als sein eigener Redakteur zu handeln, so der Grundgedanke. Und in der Maxime des Guten Journalismus liegt, so meine ich, eine Kommunikationsethik, die heute jeden angeht. Sie sollte in der Schule gelehrt werden – als Mischung aus Medienpraxis und Medienanalyse. Trainiert werden in Schulen sollte also die Mündigkeit des Einzelnen und die Stärkung der Urteilskraft. Aus meiner Sicht wäre es, auch jenseits der Schulgebäude, lange schon ein Gebot der Stunde, ein großes Gespräch über publizistische Maßstäbe und die Schulung der Urteilskraft zu initiieren. Es wäre ein Austausch und eine Debatte, die auch dem Journalismus nützen könnte und die eine bestenfalls verschlafene Bildungspolitik inspiriert; diese braucht – jenseits einer bloß naiv-modischen Technikfaszination und des allgemeinen Digi-Blabla – dringend normative Klarheit».

Gegenbewegung «Journalismus macht Schule»

Pörksen beobachtet die Szene genau und stellt fest, dass sich seit ein paar Jahren eine Art Graswurzelrevolution der Medienbildung abzeichnet, die aus dem Journalismus kommt: «Seit 2019, so berichtet beispielsweise der Verein Journalismus macht Schule, war man in Tausenden von Schulen überall in Deutschland. Es gab Schüler- und Lehrermedientage, Online-Workshops, Podcasts, Medien-Projekte und Lehrer-Fortbildungen und Seminare an Volkshochschulen und Unis in gewaltiger Zahl. Dabei sind jede Menge neue, faszinierende Initiativen und Kooperationen entstanden – zwischen regionalen und überregionalen Zeitungen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den verschiedensten Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Medienhäusern. Viele prominente Journalist:innen machen mit, engagierte Lehrer:innen sind dabei, einfach so, oft in ihrer Freizeit, ehrenamtlich. Die Grundidee dieser Medienbildungsoffensive von unten ist bestechend einfach. Sie besagt: Journalismus ist viel mehr als ein Beruf. Denn in den journalistischen Idealen und Maximen – ‹Prüfe erst, publiziere später!›, ‹Analysiere Deine Quellen!›, ‹Höre auch die andere Seite!›, ‹Orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität!›, ‹Sei skeptisch!› – liegt eine konkrete Kommunikationsethik, die heute alle angeht».

Zum Weiterlesen:

Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser-Verlag, München 2018, 22 Euro.

Rainer Patzlaff: Die Sphinx des digitalen Zeitalters. Aspekte einer Menschheitskrise. 348 Seiten, 24 Euro, Verlag Freies Geistesleben 2021

Die Zitate stammen aus folgenden Zeitungsartikeln:

Bernhard Pörksen: «Wie können wir medienmündig werden, Herr Pörksen?», Mannheimer Morgen vom 7. Juli 2018, S. 5.

Bernhard Pörksen: «Alle müssen Journalisten sein», Die Zeit, 7. Juli 2018, S. 68.

Bernhard Pörksen: «Warum Desinformation tötet», Badische Zeitung, 3. Mai 2022, S. 2.

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