Inklusion« anthroposophisch gedacht: vom Du zum Ich

Martin Cuno

Nach wie vor gibt es allerdings Befürworter einer politisch durchzusetzenden »Einen Schule für alle«. Ihnen stehen andere gegenüber, die die Sinnhaftigkeit besonderer Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen durch die Konvention nicht in Frage gestellt sehen.

Was eigentlich der gesunde Menschenverstand schon nahe legt – dass die Kinder und Eltern selbst entscheiden mögen, welche Schule die richtige ist – liegt für die Waldorfbewegung klar auf der Hand: die Politik möge sich im Rahmen der anzustrebenden Sozialen Dreigliederung aus dem Schulwesen heraushalten; die Waldorfbewegung selbst wäre ohne diese Loslösung vom Staat »für die Katz« (Steiner am 12.10.1920).

Es empfiehlt sich, die UN-Konvention einmal zur Kenntnis zu nehmen. Selbstverständlich ist darin von Menschenrechten die Rede, von freier Wahl des Aufenthaltsortes, der Lebens- und Wohnform, des Arbeitsortes, der Schule. Die Staaten haben dafür zu sorgen, dass diese Wahlmöglichkeiten nicht aufgrund von Behinderung eingeschränkt werden. Von einer Abschaffung angeblich »segregierender Sondereinrichtungen« ist nicht die Rede. Diese von der Bewegung der »Einen Schule für alle« vorgetragene Forderung ist nichts weiter als eine ideologische Instrumentalisierung der Konvention.

Damit wäre das Thema eigentlich erledigt und man könnte den Rest der Praxis und der »Abstimmung mit den Füßen« überlassen: In der Waldorfbewegung haben wir »Regelschulen«, heilpädagogische Schulen und integrative Schulen. Es ist alles da, das System ist beweglich, Eltern und Pädagogen können Schule verändern, wie sie es für richtig halten.

Epochaler Paradigmenwechsel?

Aber nun, da es an die Praxis geht, fühlt man sich durch die Inklusionsdebatte auch inhaltlich verunsichert. Es gehe um einen epochalen Paradigmenwechsel, heißt es anspruchsvoll. Mit unserer gesamten Gesellschaft stimme etwas nicht, wenn sie behinderte Menschen ausgrenze. Die Inklusion aller Menschen sei ein fernes, aber anzustrebendes Zukunftsideal.

All das klingt einem als Waldorfmensch seltsam vertraut. War da nicht etwas? Statt mit wehenden Fahnen zur Inklusionsbewegung überzulaufen, sollten wir innehalten und genauer schauen, was da war. Stehen wir als Anthroposophen nicht sogar in der Pflicht, das Zukunftsideal hinter der Karikatur zu erfragen? Handlanger einer »gesellschaftspolitisch durchzusetzenden«, ganz und gar nicht dreigliedrigen Angelegenheit wollen wir jedenfalls nicht sein.

Zukunftsideal? Wir nehmen den berühmten Vortrag Was tut der Engel in unserem Astralleib? von Rudolf Steiner zur Hand und finden hier, ähnlich wie in der Sozialen Dreigliederung, drei Zukunftsideale. Steiner stellt diese Ideale nicht etwa als Forderung hin, sondern schildert sie als Realitäten, die heute im Unbewussten jedes Menschen wirksam sind. Frei zitiert: Brüderlichkeit für die Leiber (den Nebenmenschen glücklich zu wissen), Religionsfreiheit für die Seele (das verborgene Göttliche im Mitmenschen sehen zu können), Geistes­wissenschaft für den Geist (durch das Denken zum Erleben im Geistigen zu kommen).

Nehmen wir die Dreiheit dieser Ideale zur Kenntnis, so befreien wir uns bereits ein Stück weit aus der Verengung der Inklusionsdebatte. Es wird beispielsweise versucht, uns die ausschließliche (!) »Eine Schule für alle« unter dem Gesichtspunkt der Brüderlichkeit zu verkaufen. Aber Brüderlichkeit kann nicht darin bestehen, den »behinderten« Mitmenschen nur neben mir liebevoll zu dulden, wie es das alte, überwunden geglaubte Fürsorglichkeitsdenken nahe legte. Sondern es geht schlichtweg um sein Glücklichsein. Zweitens geht es um mein Interesse an ihm und seiner Entwicklung (»verborgenes Göttliches«), sowie drittens um seinen Zugang zum Geist. Man sieht, hier liegt eine Fülle von Fragemöglichkeiten zur Schul- und Unterrichtsgestaltung. Die Waldorfschulen, insbesondere die heilpädagogischen und integrativ arbeitenden, beschäftigen sich nicht erst seit dem Aufkommen »der« (einheitlichen) Inklusionsidee mit diesen Aspekten.

Das verborgene Göttliche in jedem Menschen

Greifen wir einmal das mittlere der drei Ziele heraus, »dass in der Zukunft jeder Mensch in jedem Menschen ein verborgenes Göttliches sehen soll«. Steiner spricht von einem Impuls des Engels, »der dahin gehen wird, dass wir ein viel tieferes Interesse an jedem Menschen haben werden, als wir geneigt sind, heute zu haben. Diese Erhöhung des Interesses an unserem Mitmenschen soll sich nicht bloß etwa so subjektiv entwickeln, wie dies die Menschen so bequem in sich entwickeln, sondern mit einem Ruck, indem tatsächlich dem Menschen eingeflößt wird von spiritueller Seite ein gewisses Geheimnis, was der andere Mensch ist«.

Das »Geheimnis« hat Steiner andernorts gelüftet. Platt gesagt: Der andere Mensch, das bin ich selbst. In der im selben Jahr (1918) überarbeiteten Philosophie der Freiheit führt Steiner den »Ichsinn« ein (»Erster Anhang«), und im 8. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde verweist er darauf. In der Annahme eines Analogieschlusses vom eigenen auf das andere Ich sieht Steiner »nichts weiter als eine Torheit«. Das Ich des anderen wird sinnlich wahrgenommen. Und zwar nicht, indem unser bequemes Subjekt Eigenschaften am anderen Menschen-Ding wahrnimmt, sondern indem das größte Sinnesorgan, das wir haben, nämlich der ganze Mensch, »in seinem schlafenden Willen das Ich des andern erkundet« (GA 293), und indem »die Trennung zwischen den beiden Bewusstseinssphären tatsächlich auf-­gehoben« ist (GA 4). Hier liegt der anthroposophische Sprengstoff für das abendländische Menschenbild, den wir auch in der Inklusionsdebatte nicht ungestraft vernachlässigen können. Denn wollen wir unser Verhältnis zum anderen Menschen radikal (= von den Wurzeln her) neu bestimmen, dann müssen wir sagen: Es ist kein Ich-Du-Verhältnis, sondern ein Ich-Ich-Verhältnis.

Wer dies nur für einen sprachlichen Unterschied hält, sollte das zentrale 9. Kapitel der Philosophie der Freiheit in der Neuauflage lesen. Es enthält ohnehin die ausführliche Grundlegung für ein tieferes anthroposophisches Nachdenken über Inklusion, geht es doch um die Vereinbarkeit von radikaler Selbstverwirklichung und Gemeinschaft: »Wie ist aber ein Zusammenleben der Menschen möglich, wenn jeder nur bestrebt ist, seine Individualität zur Geltung zu bringen?« Steiners Antwort liegt in der »Einheit der Ideenwelt« oder auch »geistigen Welt«, aus der jeder Einzelne seine Impulse schöpft. Für die Neuauflage macht er hier einen Einschub, um diese Einheit näher zu charakterisieren, und in diesen vier Sätzen haben wir im Prinzip schon die Einführung des Ichsinnes als Ich-Ich-Verhältnis: »Diese Einheit ist allerdings bloß ein Ergebnis der Welterfahrung. Allein sie muss ein solches sein. Denn wäre sie durch irgend etwas anderes als durch Beobachtung zu erkennen, so wäre in ihrem Bereich nicht individuelles Erleben, sondern allgemeine Norm geltend. Individualität ist nur möglich, wenn jedes individuelle Wesen vom andern nur durch individuelle Beobachtung weiß.«

Das ist der Abschiedsgruß der Anthroposophie an den abendländischen Subjektwahn und bedeutet Gewinn und Verlust zugleich. Steckt jeder in seiner eigenen »geistigen Welt«? Nein, denn die geistige Welt ist endlich erfahrbar von dir und mir: als individuelle Beobachtung, als Beobachtung von Individualität. Verlieren muss ich mein angemaßtes Subjekt, mein angeblich »eigenes« Ich, denn wenn meine und deine Individualität sich der individuellen Beobachtung der »anderen« verdankt, sind wir die gleiche (einzige) Individualität, nämlich die der (geistigen) Welt. Und so schreibt Steiner auch bereits eine Seite zuvor: »Das Individuelle in mir … ist die einige Ideenwelt.«

Solch radikal-anthroposophisches Denken ist nicht jedem zuzumuten. Letztlich ging es Steiner, wie er im Anschluss an diese Passage schrieb, nicht um theoretische Begründungen »dieser oder jener äußeren Einrichtungen«, sondern um eine bestimmte »Gesinnung« und »Seelenverfassung, durch die der Mensch in seinem Sich-Erleben [!] unter von ihm geschätzten Mitmenschen der menschlichen Würde am meisten gerecht wird.«

Diese Gesinnung ist sicherlich mehr Programm als Realität. Aber sie wird seit vielen Jahren gelebt, und zwar auch in »exklusiven« Einrichtungen anthroposophisch motivierter Behindertenarbeit und in entsprechenden Schulen. Sie wird preisgegeben, wo man auf moralischen Druck hin mit Bewegungen koaliert, die, weil sie zwischen (Rechts-) Subjekt und »Ich« nicht differenzieren können, ganz anderes wollen als ein freies Geistesleben.