Inklusion – Herausforderung und Chance

Johannes Denger

Ein solcher Rechtstext ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), den auch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat. Seither ist es rechtlich nicht mehr haltbar, dass Kinder auf Grund ihrer Behinderung vom Besuch eines Bildungsangebotes ausgeschlossen werden. Tatsache ist, dass im europäischen Durchschnitt etwa 80 Prozent der Kinder mit Behinderungen inkludiert und 20 Prozent in besonderen Schulen unterrichtet werden. In Deutschland ist es genau umgekehrt: Wir haben mit unserem breit gefächerten, spezialisierten Angebot an Sonderschulen (Förderschulen oder Schulen für geistige Entwicklung oder wie immer sie heißen) ein besonderes Problem.

Mit diesen Zahlen ist zunächst nichts über die Qualität des Unterrichtes oder die Lebenssituation der betreffenden Kinder gesagt. Es ist aber klar, dass wir vom Ziel einer möglichst inklusiven Beschulung weit entfernt sind. Gerade durch ein qualitativ und quantitativ hoch entwickeltes, differenziertes und dadurch eben auch differenzierendes Sonderschulwesen stellt sich die Situation in Deutschland wesentlich komplexer dar, als etwa in einem Land, das nicht über diese professionelle Differenzierung verfügt.

Inklusion ist eine Zumutung

Lehrerinnen und Lehrer an heilpädagogischen Schulen, deren Arbeit in den allermeisten Fällen aus dem Motiv gespeist ist, Kindern mit zum Teil schweren Behinderungen, die mitunter vor nicht allzu langer Zeit als »nicht bildungsfähig« galten, durch Bildung zu einem menschenwürdigeren Dasein zu verhelfen, finden sich nun plötzlich in die Ecke von »Menschenrechtsverletzern« gestellt. Das ist schwer erträglich und es ist nur zu verständlich, dass sie sich innerlich und äußerlich gegen eine solche Sicht ihrer Arbeit wehren. Der gesellschaftliche Umbau kann nicht gegen, sondern nur mit den Menschen geschehen, die allein schon durch ihre Berufswahl ihr ausgeprägtes Interesse am Wohlergehen von Kindern mit Behinderungen bezeugen.

Die Waldorfpädagogen sagen – auch schon vor der Inklusionsdebatte – sie begegneten immer öfter »heilpädagogischen Situationen« in ihrer Schule. Sie sehen zunehmenden Therapiebedarf bei den Kindern und bitten die Heilpädagogen, ihnen zu helfen. Zusätzlich kommen nun Kinder auf die Waldorfschulen zu, die bisher in der heilpädagogischen Schule ihren Platz fanden. Lehrerinnen und Lehrer an Waldorf-»Regel«-Schulen, die von Heilpädagogik wenig Ahnung haben, sehen sich zunehmend mit dem Anspruch einzelner Eltern konfrontiert, ihr Kind mit Behinderung in ihre Klasse aufzunehmen.

Diese beiden Entwicklungsrichtungen treffen aufeinander. Nun ist es eine spannende Frage, ob das zu einem Crash oder zu einer wechselseitigen Befruchtung führt. Es kann die Waldorfpädagogen dazu bringen, wieder verstärkt nach den Quellen der Menschenkunde zu suchen, weil einseitige Entwicklungstendenzen beim sogenannten »heilpädagogischen Kind« oft extrem deutlich auftreten und nur menschenkundlich zu verstehen sind. Es ist Menschenkunde pur, geradezu auf dem Tablett serviert.

Umgekehrt kommen die Heilpädagogen aus ihren gesellschaftlichen Nischen heraus und verstehen zunehmend, dass auch sie über die Unterrichtung von Kindern mit Behinderungen hinaus einen allgemein-menschlichen, pädagogischen Auftrag haben.

Es ist für das Wirken von Waldorfpädagogen und Heilpädagogen auf anthroposophischer Grundlage essenziell, dass sie die Frage beantworten, inwiefern Erziehung heilend sein kann, besonders auch, wie sie mit »von der Norm abweichenden« Tendenzen umgehen. Kann man dies, ohne gewissermaßen neue Behinderungsformen zu kreieren und die Kinder so zu stigmatisieren? Das ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des neuen Paradigmas außerordentlich wichtig für die betroffenen Kinder.

Von der Euthanasie zur gesellschaftlichen Akzeptanz

Das sogenannte Menschenbild in Bezug auf Behinderung – sowohl gesellschaftlich als auch berufsspezifisch – hat sich seit 1945 erheblich verändert. In der Zeit vor 1945 liegt gerade in Deutschland durch die damals praktizierte Euthanasie das dunkelste Kapitel.

Zwischen 1945 und etwa 1960 finden wir als ersten großen Bogen, das »medizinisch-kurative Menschenbild« (Fornefeld). Behinderung, speziell in ihrer Ausprägung als sogenannte »geistige Behinderung«, wurde als vorwiegend medizinisch- pflegerisches Problem verstanden. Mit der Beschreibung von Symptomen, ihrer Bündelung zu Syndromen und dem Entwickeln von Therapien medikamentöser Art war die Hoffnung verknüpft, eine Behinderung früher oder später zum Verschwinden zu bringen oder zumindest graduell mindern zu können.

Den zweiten großen Bogen von etwa 1960 bis 1990 könnte man unter dem Titel »pädagogisch-optimistisches Menschenbild« fassen. In dieser Zeit differenzierte sich die gesamte Sonderschullandschaft, es gab immer speziellere Schulformen für immer speziellere Aufgaben mit immer speziellerem Fachwissen.

Den dritten Bogen ab etwa 1990 bis heute kann man integrierend-akzeptierendes Menschenbild nennen. Durch Integration die Segregation wieder aufzuheben und durch Inklusion dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderungen mitten unter uns leben, heilt gewissermaßen gesellschaftlich.

Behinderte werden nicht mehr behindert

Es versteht sich von selbst, dass sowohl die medizinisch-kurative als auch die pädagogisch-optimistische Zuwendung nach wie vor hilfreiche Ergebnisse zeitigen, die weiter gepflegt werden sollten. Mit dem jüngsten Paradigmenwechsel ist jedoch eine grundlegende Haltungsänderung verbunden. Behinderung wird nicht mehr alsdem einzelnen Menschen anhaftende Eigenschaft verstanden, sondern als »soziales Konstrukt«, das in der Interaktion entsteht.

So heißt es in der Präambel der Behindertenrechtskonvention, dass »Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht.«

Das bedeutet, dass Menschen nicht behindert sind, sondern behindert werden. Da umwelt- und einstellungsbedingte Barrieren überhaupt erst zur Behinderung führen, ist durch ihre Überwindung »Enthinderung« möglich.

Inklusion ist ein Generationenprojekt

Das Gestalten einer inklusiven Gesellschaft ist ein Generationenprojekt. Die Maximalforderung nach einer Schule für alle und sofort erweist sich als unrealistisch und kontraproduktiv. Es geht vielmehr darum, eine Vielfalt von Formen anzubieten, die den Eltern der betroffenen Kinder durch Wahlfreiheit ermöglicht, die für ihr Kind geeignete Schulform zu finden. Zu dieser notwendigen Vielfalt gehört als neuer Schritt die Entwicklung inklusiv arbeitender Schulen. Zunehmend erwacht das Bewusstsein dafür.

Wie gehen Waldorfschulen und heilpädagogische Schulen mit dieser Herausforderung um? In den vergangenen vier Jahren konnte der »Arbeitskreis Inklusion« eine wachsende Zahl von Waldorfschulen und heilpädagogischen Schulen in verschiedenen Städten begleiten, die sich dem Paradigmenwechsel stellen. Entscheidend ist eine Zusammenarbeit der Waldorfschule mit der heilpädagogischen Schule vor Ort.

Durch diese beginnende Zusammenarbeit in gemeinsamen Konferenzen, durch Patenklassen, die gemeinsame Epochen und Schulfahrten gestalten, durch wechselseitige Gastschüler und durch professionelle heilpädagogische Beratung von Waldorfpädagogen werden erste konkrete Schritte in Richtung inklusiver Projekte gemacht. Man fängt an, voneinander zu lernen und erlebt dies als Befruchtung der eigenen pädagogischen Arbeit. Ganz wichtig ist, dass die Eltern von Anfang an einbezogen sind. Das institutionelle Gelingen steht und fällt mit individuellen Menschen, die das Anliegen zu ihrer Sache machen.

Ändert euren Sinn!

Es geht nicht darum, zu sagen: »Inklusion ist toll« oder »Inklusion ist schlecht«. Im Umgang mit dieser Herausforderung muss man heute Schichtenurteile fällen. Es gilt zunächst die große menschenrechtliche Dimension zu verstehen und zu würdigen. Dann stellen sich die komplexen Fragen der rechtlichen und politischen Umsetzung. Es geht darum, verfestigte Strukturen aufzubrechen, Barrieren zu beseitigen, zum Teil auch lieb gewordenes Altes zu überwinden und Neues zu veranlagen. In allererster Linie aber geht es um eine Haltungsänderung: Ändere Deinen Sinn! Viele Heilpädagogen und Sozialtherapeuten berichten davon, dass das Verändern von Strukturen oft ein mühsames Geschäft ist, dass aber ihre Auseinandersetzung mit dem Geist der BRK und anderen Quellen ihr Bewusstsein im täglichen Arbeiten verändert hat. Ob Inklusion real wird oder nicht, entscheidet sich letztlich in der Begegnung von Mensch zu Mensch.

Zum Autor: Johannes Denger ist Heilpädagoge und Waldorflehrer, Referent für Bildung, Ethik, Öffentlichkeit des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V., sowie Redakteur der Verbands-Zeitschrift PUNKT UND KREIS.

Literatur:

Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin 2011

Barbara Fornefeld: Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München 2008