Wissenschaft

Die Bedeutung der Handschrift beim Lesen, Schreiben und Denken

Manfred Spitzer
Foto: © suschaa / photocase.de

Das Lesen ist ein Spezialfall von visueller Wahrnehmung. Ganz offensichtlich gab es Letztere schon, als es noch keine Schrift, ja sogar, als es noch keine Sprache gab, denn viele Tiere können sehen. Aus Untersuchungen der Schädelgröße und -form bei prähistorischen menschlichen Knochenfunden kann man schließen, dass es Sprache schon seit mindestens einhunderttausend Jahren gibt. Dass Sprache mittels graphischer Zeichen festgehalten wird, ist dagegen eine relativ junge, etwa fünf- bis sechstausend Jahre alte kulturelle Errungenschaft.

Im einfachsten Fall stellt man ein Wort, das eine Sache meint, durch ein Bild der Sache dar. Daher ging die Entwicklung der Schrift von Bilderschriften aus. Eine solche Schreibweise hat jedoch Nachteile, wie folgende Anekdote verdeutlicht: Als ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt der persische König Darius einen Feldzug gegen die Skythen führte, kam nach der Invasion in deren Land ein skythischer Bote mit einer Nachricht, die aus den Bildern einer Maus, eines Frosches, eines Vogels und dreier Pfeile bestand. Darius interpretierte die Nachricht wie folgt: »O ihr Perser, wir ergeben uns mitsamt unserem Land und unserem Wasser [Maus und Frosch]. Wir fliehen [Vogel] vor der Macht eurer Legionen und sind bereit, euch alle unsere Waffen [die Pfeile] zu übergeben.« Zur großen Überraschung der Perser griffen die Skythen in der folgenden Nacht jedoch an. Nach der Schlacht erfuhr der König von einem skythischen Feldherrn die wahre Bedeutung der Botschaft: »O ihr Perser, sofern ihr euch nicht in Vögel verwandeln könnt, um durch die Lüfte zu fliegen, oder in Feldmäuse, um euch unter die Erde zu wühlen, oder in Frösche, um Zuflucht in den Sümpfen zu finden, werdet ihr niemals entkommen und in euer Vaterland zurückkehren, sondern vielmehr an unseren Pfeilen sterben.«

Die Anekdote macht klar, warum die Bilderschrift in den meisten Gegenden der Erde zunächst von einer Silben-Lautschrift und schließlich von den heute üblichen alphabetischen Schriften abgelöst wurde, bei denen jedem Laut ein einzelnes Symbol zugeordnet ist. Eine Ausnahme bilden die Selbstlaute (A, E, I, O, U), die zunächst gar nicht oder nur zum Teil geschrieben wurden.

Auch heute werden sie in manchen Schriften noch weggelassen und m-n k-nn Spr-ch- t-ts-chl-ch v-rst-h-n, w-nn d-- S-lbstl--t- g-nz w-g-gl-ss-n w-rd-n.

Bei der Entwicklung der Schrift spielten auch handwerkliche Aspekte eine Rolle. Die Sumerer schrieben vor mehr als 4000 Jahren mit einem Holzstäbchen, das in weichen Ton gedrückt wurde. Durch jeweils drei bis zehn der resultierenden linienförmigen Eindrücke wurde ein Symbol erzeugt. Da der Druck nicht immer gleichmäßig war, entstand nicht selten an einem Ende der Linien ein tieferer und breiterer Eindruck. Diese »Werkspur« gab der Schrift den Namen Keilschrift. Die Symbole entwickelten sich innerhalb weniger hundert Jahre aus einer einfachen Bilderschrift.

Damit das Lesen und Schreiben kulturell weitergegeben werden konnte, wurde die Schule von den Sumerern gleich mit erfunden. Drei bis höchstens zwölf Schüler:innen wurden gemeinsam unterrichtet, wie man aus Funden von Tontafeln weiß, bei denen es sich um das handelte, was man heute »Übungshefte« nennt: man sieht der Schrift an, dass sie beim schreibenden Kind noch nicht richtig »sitzt«. Das Schreiben mit Holzstäbchen auf Tontafeln war komplizierter als das Schreiben mit Bleistift auf Papier, und die Inhalte – Schreiben, Lesen, Rechnen, Büroarbeit – waren abstrakter als in der heutigen Grundschule. Die »Schreiber« brauchte man, um den komplexen Staatsapparat, der durch Ackerbau und Viehzucht ermöglicht wurde, zu verwalten – sie waren das, was man heute »Beamte« nennt.

Der kurze Überblick macht deutlich, dass das menschliche Gehirn für das Lesen und Schreiben etwa so geeignet ist wie ein Traktor für die Formel-1, denn 99 Prozent seiner Geschichte verbrachte der Mensch ohne Lesen und Schreiben. Als die Techniken jedoch erst einmal erfunden waren, erwiesen sie sich als dermaßen praktisch, dass sie fast nirgends wieder ausstarben. Eine bekannte Ausnahme ist die Osterinsel, auf der man eine Schrift fand, die keiner mehr lesen kann und die bis heute – aufgrund der wenigen Funde – von niemandem entziffert werden konnte.

Bevor Sie weiterlesen, zählen Sie bitte, wie häufig der Buchstabe F im folgenden Text vorkommt:

FINISHED FILES ARE THE RE-

SULT OF YEARS OF SCIENTIF-

IC STUDY COMBINED WITH

THE EXPERIENCE OF YEARS.

Nicht nur Sie, sondern die meisten Leser:innen und sogar Lektor:innen finden zunächst nur drei Fs statt der tatsächlich vorhandenen sechs. Warum? Untersuchungen konnten zeigen, dass wir dazu neigen, kurze häufige Wörter beim Lesen nur kurz oder meist überhaupt nicht zu beachten. Ein solches Wort ist »of«, das im obigen Text dreimal vorkommt. Wahrscheinlich haben sie die Fs in den drei Wörtern beim ersten Lesen nicht mitgezählt. Das häufigste Wort im Englischen ist »the«, und entsprechend zeigten Studien, dass Druckfehler in diesem Wort in englischen Texten die kleinste Chance haben, entdeckt zu werden. Man schaut das Wort gar nicht an.

Seit mehr als hundert Jahren weiß man, dass wir für das Erkennen eines einzelnen Buchstabens länger brauchen als für das Erkennen eines ganzen Wortes. Heutige erwachsene Durchschnittsleser:innen können ein Wort etwa innerhalb von vier Zehntelsekunden (400 Millisekunden) lesen. Das Vorlesen eines zusammenhängenden Textes geht noch schneller, werden dabei doch in einer Minute etwa 300 Wörter gelesen, das heißt fünf Wörter pro Sekunde.

Daraus lässt sich schließen, dass Wörter keinesfalls Buchstabe für Buchstabe gelesen werden, sondern »ganz­heitlich«. Man sieht das daran, dass sich eine Schrift, die aus aBwEcHsElNdEn GrOß- UnD kLeInBuChStAbEn zusammengesetzt ist, erst nach einiger Übung halbwegs problemlos lesen lässt. Das geht schon besser, wENn MaN fÜr GleIcHe PhYsIkAlIsChe GrÖße DeR GrOßEn UnD kLeInEn BuChStAbEn SoRgT.

Nimmt man an, dass Oberstufenschüler:innen etwa zehn Seiten am Tag lesen und dass auf einer Seite etwa 500 Wörter stehen, dann haben sie nach zehn Jahren Praxis 10 x 500 x 365 x 10 (= 18.250.000) Wörter gelesen. Das passt ganz gut zu den Erkenntnissen aus der Sprachentwicklung: Bis zum Tag der Einschulung hat ein Kind aus »einfachem Hause« etwa 8.500.000 Wörter gehört, ein Akademikerkind dagegen etwa 40.000.000! Schon vor Beginn der Beschulung hat also ein Akademikerkind (wo zuhause mehr gesprochen wird als in Arbeiterfamilien) etwa viermal soviel Sprachtraining erfahren als ein Kind aus eher einfachen Verhältnissen. Da der Unterricht an Schulen im Wesentlichen in sprachbasiertem Lernen besteht, geht die hierzulande viel gerügte Ungleichheit der Bildungschancen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft auf die Zeit vor der Schule zurück.

Das Schreiben mit der Hand ist nicht nur für das Erlernen des Schreibens wichtig, sondern vor allem auch für das Erlernen des Lesens. Diese Erkenntnis ist zwar alt, wird jedoch in ihrer Tragweite von denen, die die Handschrift durch Tippen ersetzen möchten, vollkommen missachtet. Betrachten wir hierzu eine neue, im Fachblatt Science publizierte Studie, bei der die Leistungsfähigkeit eines künstlichen neuronalen Netzwerks (Computersimulation) beim Erlernen des Lesens mit der Leistung von Menschen verglichen wurde, um die Bedeutung motorischer Informationen beim Erwerb der Fähigkeit zur (Wieder-)Herstellung einfacher piktografischer Formrepräsentationen (Buchstaben), das heißt beim Lesenlernen, aufzuzeigen. Die Autoren werteten die Leistung beim Erlernen neuer Zeichen bei Menschen und bei maschinellem Lernen aus. Während herkömmliche Deep-Learning-Netzwerke deutlich schlechter abschnitten als Menschen (mit Fehlerquoten zwischen 8 und 34,8 Prozent), erreichte ein visuell-motorisch integriertes, maschinelles Lernsystem eine Fehlerquote von 3,3 Prozent und lag damit auf dem Niveau der menschlichen Fehlerquote von 4,5 Prozent (Lake et al. 2015). Weitere Experimente zeigten, dass das Modell auch in der Lage war, plausible neue Zeichen zu erzeugen, d.h. es ahmte die Fähigkeit des Menschen nach, dies mit Leichtigkeit zu tun.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen mit funktioneller Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) zeigten darüber hinaus, dass das Erkennen von Buchstaben, die durch Schreiben mit einem Stift gelernt wurden, zu einer verstärkten Aktivität in motorischen Hirnregionen führt. Bei Buchstaben, die mittels Tastatureingabe gelernt wurden, war das nicht der Fall. Daraus lässt sich schließen, dass nur das Formen von Buchstaben mit einem Stift motorische Gedächtnisspuren anlegt, die bei der Wahrnehmung von Buchstaben aktiviert werden und das Erkennen des Buchstabens in seinem visuellen Erscheinungsbild erleichtern.

Die für das Lesen förderliche, zusätzliche motorische Gedächtnisspur wird bei der Eingabe über die Tastatur nicht angelegt, da die Tippbewegungen in keiner Beziehung zur Buchstabenform stehen.

Ganz allgemein gilt: Denken ist immer verkörpert. Daher ist das Buchstaben-Lernen durch Schreiben mit einem Stift dem Lernen durch Tippen oder Klicken auf einem digitalen Schreibgerät überlegen. Kurz: Gut Lesen lernt man nur durch Schreiben mit der Hand. Ein Vergleich mit der Musik liegt auf der Hand. Man lernt sie nicht allein durch passives Zuhören, sondern vor allem durch aktives Musizieren. Würde man also das Singen und Musizieren in der Kindheit weglassen, würde man dem Kind die Förderung vorenthalten, die das Singen und Musizieren für die Musik, aber auch für andere höhere geistige Leistungen nachweislich bringt. Musik ist eine Kulturtechnik, die man allein deswegen fördert, weil sie dem Menschen in seinem Menschsein guttut, denn Menschen sind – auch und gerade aus biologischer Sicht – Kulturwesen, sie sind gebaut für die Übernahme und Weitergabe von Kultur und ohne Kultur nicht lebensfähig.

Angesichts der rasant fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft wird besonders deutlich, dass auch Lesen und Schreiben zu den Kulturtechniken gehören. Dabei geht es keineswegs nur um das richtige Formen von Buchstaben, sondern letztlich um integriertes senso-motorisches Handeln, das Grundlage jeglichen Denkens ist. Hinzu kommt, dass Bildschirme in jungen Jahren die Entwicklung des Gehirns und der Augen stören und damit langfristig zu geringerer Bildung und schlechterem Sehen führen. In der Augenheilkunde spricht man schon jetzt von einer Kurzsichtigkeitspandemie, an der mehr als eine Milliarde Menschen leidet. Bei schwerer Kurzsichtigkeit ist das Risiko von Erblindung deutlich erhöht. Ein in Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter erreichter geringerer Bildungsgrad ist nachweislich der stärkste beeinflussbare Risikofaktor für das spätere Auftreten einer Demenz. Bevor wir Laptops in Kindergarten und Grundschule einführen, sollten wir wissen, was wir unseren Kindern damit antun! Es besteht nicht nur die Gefahr, dass durch den massiven Einzug digitaler Medien in Kindergärten und Schulen die Lesekompetenz der Kinder zu wenig gefördert wird. Vielmehr geht es um die geistige Leistungsfähigkeit und die Gesundheit der nächsten Generation, für die wir Erwachsenen verantwortlich sind und die wir nicht leichtfertig gefährden dürfen.

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