Interkulturelle Waldorfpädagogik. Eine Übersicht

Christoph Doll

Der interkulturelle Ansatz ist ein gemeinsames Projekt der Waldorfschulbewegung und mit dieser Zusammenarbeit ist eine Vision verbunden: Wenn es den Initiativen gelingt, weitere Interkulturelle Schulen auf die Beine zu stellen, dann bekommt die Waldorfbewegung zu ihrem 100. Geburtstag ein zeitgemäßes Geschenk: Waldorfschulen, die eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme aufgreifen: die Bildungschancen der Kinder mit Migrationshintergrund.

Folgende Aufgaben hat der Arbeitskreis auf seiner konstituierenden Sitzung 2010 in Mannheim festgelegt:

• pädagogischer Austausch der Mitglieder durch Tagungen

• gegenseitige Unterstützung der pädagogischen Arbeit

• gemeinsame Forschungsprojekte

• Koordination von Publikationen, Periodika

• Beratungen von Einrichtungen, Mentorenschaften

• Verbandsarbeit, Öffentlichkeitsarbeit

• Qualitätsentwicklung in Evaluation

• Förderung der Lehrerausbildung

• Austausch in Finanzfragen

• Zusammenarbeit mit den Seminaren Berlin u. Mannheim

Mit der Gründung der Freien Interkulturellen Waldorfschule im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt-West im Jahr 2003 hat die Waldorfschulbewegung einen kräftigen Innovationsschub erhalten. Ein wichtiges Erlebnis war, dass die Waldorfgemeinschaft ein zentrales Problem der Gesellschaft aufgreifen kann. Lange, vielleicht zu lange haben sich die Waldorfschulen vielerorts lediglich der Nachfragenden angenommen. Nun wollen wir für Kinder jeder Herkunft eine hilfreiche, förderliche und entwicklungsgerechte Pädagogik betreiben und wir bringen unser Angebot zu ihnen hin.

Der moralische Kontakt zwischen Lehrer und Schüler ist der Schlüssel für jeden gelingenden pädagogischen Prozess. Dass dies für Kinder aus allen sozialen Schichten, aus allen Religionen, aus aller Herren Länder gilt, dem wird niemand widersprechen – doch programmatisch wurde dieser Ansatz bisher nicht realisiert. Dass sich ein Querschnitt der Gesellschaft in einer Klasse trifft und sich die Kinder in dieser Vielfalt begegnen, bildet einen Gegenentwurf zu einem eingefahrenen und selektierenden Schulsystem, das nicht mehr im Stande ist, sich zu erneuern.

Wir setzen als interkulturelle Gesamtschule einen Kontrapunkt, der nicht nur soziale Integration fördert, sondern Friedenspädagogik in höchstem Maße leistet. Wir haben in dem Klassenlehrer, der als Kontinuum, als Vertrauens­person die dynamische Heterogenität der Klasse kennt und gestaltet, der die Entwicklungsprozesse der einzelnen Schülerinnen und Schüler verstehend begleitet, der die soziale Empfindungsfähigkeit schult und anregt, eine Integrations-»autorität«.

Durch unsere erprobten Methodiken, durch unsere Sprachkonzepte und vor allem durch die Art, wie wir auf die Entwicklung der Kinder schauen, geben wir ihnen die nötige Zeit und lassen uns nicht von einem Test zur Untersuchung des Sprachstands drängen. Es wurden Fächer kreiert, um die Begegnung mit der Welt, mit unterschiedlichen Sprachräumen zu intensivieren (z.B. Begegnungssprache). Die Vielfalt der Welt wird in den Klassen durch die Kinder und Lehrer zur Erscheinung gebracht. Für einzelne Fächer wird der Lehrplan durchforscht und teilweise erweitert oder neu gegriffen (z.B. Geschichte). Durch die Auseinandersetzung mit den Religionen der Welt werden neue Wege für dieses Fach gesucht und Toleranz gefördert.

Diese Ideen und Ansätze weckten bei vielen Pädagogen, aber auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs große Aufmerksamkeit. Verschiedene Diplom- und Masterarbeiten (z.B. an den Universitäten Mainz und Heidelberg) wurden über die interkulturelle Waldorfpädagogik verfasst. In verschiedenen Printmedien gab es Berichte und Interviews, auf Podien und in Vorträgen wurde mit Wissenschaftlern und Pädagogen diskutiert und die Arbeit beschrieben. Für die politischen Vertreter aller Parteien, vor allem für die Bildungspolitiker ist diese Form der interkulturellen Pädagogik ein wichtiger Anstoß, die Anliegen und die methodischen Ansätze der Waldorfschulen ernst zu nehmen. Auch überzeugt an dieser Stelle, dass sich Waldorf den gesellschaftlichen Fragen der Zeit stellt und Alternativen zum Bestehenden aufzeigt, ohne Besserwisserei, sondern im Austausch über die Wege und für die Kinder.

Die finanziellen Belastungen dieser Initiativen sind aufgrund der zögerlichen staatlichen Unterstützung enorm; deshalb benötigen sie einen starken Impuls der Gründungs­mitglieder und Förderer, die erkennen, dass in den Möglichkeiten eines solchen Waldorfschultyps ein Zukunftsimpuls lebendig wird, der für die jeweilige soziale Situation vor Ort beispielhaft wirken kann. »Interkulturelle Begegnungsfähigkeit« ist heute für jedes Unternehmen, jeden Betrieb wichtiger Teil der erforderlichen »soft skills«. Zukunftsfähige Gemeinschaften können in einer Welt des globalen Lernens, von Diversität oder Erziehung zur Vielfalt nur dort entstehen, wo über solche Fähigkeiten verfügt wird. Es braucht also Menschen aus der Wirtschaft und Stiftungen, die sich finanziell engagieren, um eine solche Schule zu ermöglichen. Die geringere Schulgeldleistung kann durch eine Gemeinschaftsfinanzierung über den Bund der Freien Waldorfschulen vermutlich nicht ausgeglichen werden. Aber es ist möglich, dass einzelne Schulen oder eine Landes­arbeitsgemeinschaft sich verabreden, eine solche Schule mit anzuschieben und mitzutragen.

Auch wenn an manchen Stellen noch »Kinderkrankheiten«, wie zum Beispiel ungeklärte Fragen in Bezug auf die Einrichtung der Oberstufen oder Fragen zur Religion, zur interkulturellen Kollegiumsbildung überwunden und weitere Erfahrungen in diesem für die Waldorfschulbewegung ungewohnten Umfeld gesammelt werden müssen – der erste Ansatz ist gemacht; er zeigt, dass für unsere große, manchmal auch schwerfällige Schulbewegung belebende Impulse durch die Initiativen in Mannheim, Stuttgart, Hamburg, Dortmund und Berlin ausgehen und lässt erahnen, welche große Chance sich unserer Bewegung bietet, wenn wir uns noch an anderen Orten zeigen.

So hilft der interkulturelle Impuls auch zu neuem Schwung für unsere bald hundertjährige alte junge Dame »Waldorfpädagogik«. Wir müssen als Schulbewegung noch mehr Phantasie entwickeln und Kräfte bündeln, um weitere Initiativen zu ermutigen. Denn durch eine solche Arbeit sprechen wir auch viele Menschen an, die sich bisher nicht um  Waldorfpädagogik gekümmert haben. Immer wieder begegneten mir Menschen, die es als möglich ansahen, Lehrer zu werden, weil es einen solchen interkulturellen Impuls gibt.