Ist die Waldorfschule noch so revolutionär wie vor 90 Jahren?

Mathias Maurer

Die Gründung der ersten Waldorfschule im September 1919 war ein Erdbeben in der pädagogischen Landschaft. Seit diesem Datum sind über 1000 Waldorfschulen entstanden, so beschrieb Walter Riethmüller vom Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen zur Eröffnung des Bildungskongresses am 23. Oktober auf der Uhlandshöhe in Stuttgart den Beginn der weltweiten Waldorfschulbewegung.

Mit diesem Kongress unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Oettinger wollte man sich bewusst aus dem Gleichgewicht bringen, sich kritischer Außensicht öffnen und sich einer Spiegelung aussetzen: Ist die Waldorfschule noch so revolutionär wie damals?

Die politischen Vertreter aller Parteien waren voll des Lobes und stellten in ihren Grußworten finanzielle Besserung durch Zuschusserhöhungen in Aussicht. In pädagogischer Hinsicht kam einer Antwort Bundesvorstand Henning Kullak-Ublick in seinem Impulsreferat nahe, als er schilderte, wie diese Pädagogik vom radikalen Blick auf das, »was vom Kind kommt« ausgehe. Er traf den revolutionären Nerv, als er an den gesellschaftlichen Erneuerungsimpuls der Waldorfpädagogik erinnerte, den Abgeordneten Pauer in der Paulskirchenversammlung von 1848 zitierend: »Wenn Sie die Freiheit des Volkes wollen, dann schaffen Sie freie Schulen.« Und in der Tat: Die Verbindung des individuellen und gesellschaftlichen Freiheitsgedankens in einer pädagogischen Bewegung zu verankern, war Rudolf Steiners zentrales Anliegen. Wird man ihm heute noch gerecht – oder bewegt man sich zwischen Sonderschule und Turbogymnasium ohne gesamtgesellschaftliche und politische Ziele?

Dass Waldorf mit ihrer Pädagogik nicht falsch liegt, zeigte in seinem überzeugenden Vortrag der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer. Die Lernmotivation hängt, wie die biochemischen Prozesse im Gehirn zeigen, unmittelbar mit der Beziehungsqualität der Lehrenden und Lernenden zusammen. Voraussetzung sei soziale Akzeptanz, nicht Ausgrenzung. »Lass mich spüren, dass es mich gibt, zeige mir, wer ich bin, beschreibe meine starken und schwachen Seiten. Lobe mich, aber kritisiere mich auch und zeige mir, welches meine Potenziale sind, was Du mir zutraust«, das wünschen sich, so Bauer, die Kinder und Jugendlichen. Durch das neuronale System lernen sie am Vorbild. Ebenso bestätige die Hirnforschung die sogenannten Kinderbesprechungen als äußert effiziente Herstellung von Beziehung, da wir unbewusst untereinander in Resonanz stehen.

Highlight des Kongresses war die von Martina Meisenberg vom SWR moderierte Podiumsdiskussion. »Mit unserem Ziel, den Schülern Selbstmanagement zu vermitteln, sind wir absolut top of the bill«, sagte Christof Wiechert von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum; er ermahnte allerdings die Waldorfschulen, sich offensiv in die bildungs­politische Debatte einzumischen. »Ihr bringt eure PS nicht auf die Straße« so taz-Redakteur Christian Füller, und meinte damit die unausgeschöpften Potenziale der Waldorfschulen, um die Bildungsarmut in den unteren Schulformen und die pädagogische Armut in den höheren zu überwinden, die den Schülern nur die Alternative »friss oder geh« ließen. Hier könnte Waldorf von anderen Schulkonzepten lernen und sich stärker profilieren. Die Waldorfschulen hätten ein »oszillierendes» Image, so der Präsident der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, Stephan Jansen. Dennoch gibt es mit 13 Prozent einen bemerkenswert hohen Anteil von Waldorfschülern, die das anspruchvolle Auswahlverfahren der Universität bestehen. Auch fehle es an »Strukturen der Selbstüberarbeitung«, wodurch die »Schwere der Form« überwiege. »Was ich vor 30 Jahren im Seminar gelernt habe, geht heute nicht mehr«, kritisierte Waldorflehrer Rüdiger Iwan. Die Waldorfpädagogik tue sich schwer, an das anzuknüpfen, was die Schüler individuell mitbrächten, und plädierte für das Portfoliolernen, Auflösung des Frontal­unterrichts und den individuellen Lernnachweis. Der ehemalige Grundschuldirektor Bernd Rechel von der GEW »war immer ein bisschen neidisch auf die Waldorfschulen«, da sie die Schüler nicht als »Bildungsverlierer« aussortiere. Doch könnten sie von den staat­lichen Schulen in puncto Individualisierung des Lernens und Unterrichten von Kindern mit Migrationshintergrund etwas lernen. Rechel sprach sich gegen die »ganze Testeritis« und für eine starke Schulleitung aus: »Aus meiner Sicht brauchen die Kollegien einen Rektor.«

Die 600 Teilnehmer hatten einige Anregungen im Gepäck. Ob das Erdbeben in zehn Jahren noch anhält, wird sich zeigen, wenn Waldorf 2019 zum hundertsten Geburtstag einlädt.