Der Lehrer als Bergführer und Kapitän. Führungsqualitäten in der Klassenlehrerzeit

Oscar Scholz

Zunächst besteht für den Lehrer die Aufgabe, zu Beginn der Schulzeit eine Klasse zusammenzuführen, sie zu einer Klasse zu formen. Sie muss Gewohnheiten ausbilden in Bezug auf den Unterrichtsablauf, die Gesprächskultur oder die Hausaufgaben. Hinzu tritt im Laufe der Jahre die Aufgabe, bei der stärkeren Individualisierung der Kinder, die Schüler fortwährend wieder zusammenzuführen. Wenn Eigenheiten und Schwächen den anderen bewusst und nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert werden, ist darauf zu achten, dass Einzelne nicht herausfallen. Kann in der Klasse offen gesprochen werden oder herrscht eine Meinungshoheit? Ist es möglich, Akzeptanz dafür aufzubauen, dass der Mitschüler ganz anders ist und vielleicht auch sein will? Hier geht es um die Pflege des Mitgefühls. In diesen Zusammenhang gehört die Diskussion über die schädliche Wirkung von Computerspielen. Viele dieser Spiele gewöhnen einem das Einfühlungsvermögen systematisch ab. Die Übungen im Grammatikunterricht in der 5. und 6. Klasse zur unmittelbaren und mittelbaren Rede bilden gewissermaßen kleine Etüden zur Ausbildung dieser Fähigkeit. Eine Klasse zu führen, bedeutet, ein gesundes Klima, eine gedeihliche Atmosphäre zu schaffen.

Die Eltern müssen mitspielen

In diesen Prozess sind die Eltern einbezogen. Auch sie sollten lernen, den Zusammenhang der Klasse zu sehen und nicht nur das eigene Kind. Besonders schwer wird dies in der Mittelstufenzeit, dem Beginn der Pubertät, wo die Gefahr einer zu starken oder zu geringen Identifikation mit dem Jugendlichen gleichermaßen besteht. Leicht kann es passieren, dass man in die Emotionalität des Jugendlichen einsteigt: »Was, das hat der Lehrer/der Schüler gesagt/getan?! Das ist ja unglaublich! Dem müsste man …« Selten ist Jugendlichen damit geholfen. Trotzdem gilt es, die Probleme des Pubertierenden ganz ernst zu nehmen. Man muss unterscheiden lernen, wo es darum geht, die Probleme auf eine andere Ebene zu heben, und wo die Aufregung letztlich Selbstzweck ist; denn der Jugendliche genießt sich auch im Ausleben der Emotionen.

Vor einer zu geringen Identifikation schützt das Bemühen, sich aktiv an die eigene Jugend zu erinnern und die Empfindungen von damals wachzurufen. Dies kann zum Zaubermittel werden, den Jugendlichen anders anzuschauen und zu verstehen.
Klassenführung heißt auch, Brücken zu bauen, zu vermitteln – zu anderen und zu sich selbst.

Kinder an die Welt heranführen

Der Lehrer hat die Aufgabe, die Kinder an die Welt heranzuführen, so dass diese sich mit ihr innerlich und äußerlich verbinden können. In der Unterstufe wird darauf vorbereitet und ein Instrumentarium dazu erworben. So geht es im Formenzeichnen, in der Pflege des Lied- und Sprachguts oder in den Erzählungen um ein Einstimmen auf die äußeren und inneren Bewegungen der Welt. Dabei hat der Lehrer stets von der Frage auszugehen: Wie erlebt das Kind sich selbst und wie erlebt es die Welt? In den ersten Schuljahren steht die Welt dem Kinde noch nicht als Sachwelt gegenüber. Die Gegenstände sind beseelt und können miteinander sprechen: Ihr wesentlicher Zusammenhang erscheint im Bild. Am Ende der Schulzeit sollte dieser Zusammenhang in der Erkenntnis aufscheinen. Aus der Bewegung des Bildes wird anfangs gesungen und musiziert: große seelische Wahrbilder erscheinen im Märchen, in Fabel und Legende. Ab der ersten Schulstunde werden im elementaren geometrischen Zeichnen die Formen nachvollzogen, die die sichtbare Welt konstituieren. Da dem Kinde noch keine Objekte gegenüberstehen, behandelt man die ersten Weltbereiche ganz im Anschluss an den Menschen: Menschen- und Tierkunde, Pflanzenkunde in Bezug auf die Entwicklung des Menschen, Geografie als Heimatkunde.

In der Mittelstufe führt dann der Lehrer durch die einzelnen Gebiete.Methodisch und inhaltlich werden in den verschiedenen Epochen, nun an den Erscheinungen orientiert, einzelne Weltaspekte erschlossen. Hier ist die innere Führungskraft des Lehrers gefragt, weil der Jugendliche gerade über diese noch nicht verfügt und sich in den eigenen, neu erworbenen Seelenprovinzen noch nicht sicher orientieren kann. Der Lehrer muss dem Jugendlichen das eigene geistige Zentrum gewissermaßen zur Verfügung stellen. Er muss auch hier Brücken bauen, wenn der Schüler sich in einer Position oder der Beurteilung eines Eindrucks verrannt hat. Besonders in den Naturwissenschaften kann die Neuordnung der Seelenfähigkeiten, das Beschreiben, Urteilen und Erklären intensiv geübt werden. Dabei hat der Lehrer das Denken der Schüler behutsam zu führen, und er erweist sich oft als der Kapitän im Seelensturm.

Der Klassenlehrer als Bergführer

Ein guter Führer – ob Berg- oder Kunstführer – kennt den Weg und das Ziel.
Die Klassenlehrerzeit ist eine Wanderschaft, die an ihren Bergführer besondere Anforderungen stellt. Denn die Voraussetzungen und die Ausrüstung der Wanderer sind sehr verschieden. Eigenartig an dieser Wanderung ist, dass man zwar den gleichen Weg geht, dabei aber ganz Unterschiedliches erlebt. Manche haben steile Berggipfel zu erklimmen, Gratwanderungen zu bewältigen, vorbei an Schluchten und Abgründen. Manche geraten in starken Wind und Gewitterstürme oder drohen von Lawinen in die Tiefe gerissen zu werden. Andere dagegen gehen denselben Weg und bemerken von all dem nichts, sondern erleben einen gemütlichen Spaziergang über sonnige Wiesen.

Noch sonderbarer an dieser Wanderung ist jedoch, was es mit dem Gepäck, das man trägt, auf sich hat. Jeder trägt einen Rucksack. Bei manchen ist der Rucksack bei Antritt der Reise bereits prall gefüllt, bei manchen nicht, und es ist die Aufgabe des Bergführers, die Rucksäcke möglichst gleichmäßig zu füllen. Doch der Proviant im Rucksack ist eigenartig. Manchmal weiß man gar nichts damit anzufangen, manchmal scheint der Rucksack leer zu sein, obwohl er voll ist, weil man nicht richtig darin nachgeschaut hat. Manches in dem Rucksack entdeckt man erst nach ein paar Jahren und Vieles wird erst nach langer Zeit sichtbar werden, wenn man sich mit einer anderen Gruppe auf eine neue Wanderschaft begibt.

Auf die Wegzehrung kommt es an

Ehemalige Waldorfschüler berichten oft davon, dass lange nach der Schulzeit plötzlich bestimmte Eindrücke oder Situationen aus dem Unterricht auftauchen. Das können Gedichte sein, die man einst rezitiert und längst vergessen zu haben meint, Stimmungen aus der Theaterarbeit, Gespräche im Biologieunterricht oder auch nur das Bild eines Lehrers. Und diese Eindrücke erscheinen nun in einem anderen Licht, verwandelt. Rudolf Steiner spricht davon, wie wichtig es ist, den Kindern Begriffe zu vermitteln, »die wachsen können«. Sind deine Unterrichtsinhalte verwandlungsfähig, haben sie seelischen Nährwert? Das ist die stete Frage des Lehrers an sich selbst. Auch wenn es als rekapitulierbares Wissen oft momentan nicht greifbar ist, kann es einen Proviant für das Leben bedeuten, wenn man im Geschichts- oder Geographieunterricht ansatzweise gelernt hat, Zusammenhänge zu denken.

Keiner darf auf der Strecke bleiben

Der Lehrer als Bergführer hat unterschiedliche Aufgaben. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Rucksäcke der Wanderer so gut es geht zu füllen und sie Schritt für Schritt dahin zu bringen, dass sie den Rucksack selber packen lernen.
Der Klassenlehrer hat die Aufgabe, auf die individuellen Möglichkeiten der Schüler einzugehen und zu berücksichtigen, wie verschieden die Erlebnisse auf dem gemeinsamen Weg sein können. Er muss den Unterricht so führen, dass keiner auf der Strecke bleibt. In der Oberstufe sollte der Jugendliche zu der Einsicht kommen, dass er nicht mehr für den Lehrer lernt. Der Lehrer ist nicht mehr Führer, sondern Entwicklungs-Begleiter. Letztendlich geht es darum, den Quell aller Entwicklungsbemühungen in sich zu erfahren. Zu diesem Ziel möchte Waldorfpädagogik führen.

Zum Autor: Oscar Scholz, Jahrgang 1970, Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.