Dem sozialen Unternehmertum gehört die Zukunft

Irmgard Wutte

Der Menschheit geht die Arbeit aus. Schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschrieb der amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeremy Rifkin in seinem Buch »Das Ende der Arbeit«, dass es bald sehr wenig Arbeit im Produktionssektor, aber um so mehr – unbezahlte – auf sozialem und ökologischem Gebiet geben werde. Rifkin setzt dabei auf zivilgesellschaftliches Engagement, auf Menschen, die Arbeits- und Beziehungsstrukturen schaffen, ohne dabei in erster Linie eine Rendite vor Augen zu haben, kurz: Sozialunternehmer. Das sind Menschen, die Ideen haben, andere anstellen und ausbilden können und so einen Markt der Möglichkeiten schaffen.

Das Beispiel Jeroo Billimorias in Indien 

Beispiele für solche Sozialunternehmer werden in dem Buch »Die Welt verändern« von David Bornstein skizziert. Er porträtiert neun Menschen, zum Beispiel die Inderin Jeroo Billimoria aus Mumbai. Nach einem Aufbaustudium in New York kehrte sie 1989 in ihre Heimatstadt zurück und arbeitete als Dozentin an einer Hochschule für Sozialarbeit. Als sie frühere Studenten, die in Mumbais Notunterkünften arbeiteten, besuchte, fühlte sie sich besonders von den Straßenkindern angezogen. Sie gab ihnen ihre Privatnummer – für Notfälle – erhielt aber schon bald täglich Anrufe. »So erfuhr ich, wie gern Straßenkinder telefonieren«, meinte sie. Manchmal riefen die Kinder nur an, um Hallo zu sagen, und manchmal telefonierten sie, weil sie traurig waren und sich einsam fühlten. Doch wenn Jeroo vom Telefon mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde, konnte sie sicher sein, dass eines der Kinder krank war oder  von einem Erwachsenen, oft von einem Polizisten, zusammengeschlagen worden war. Es konnte Tage dauern, bis sie die notwendige Hilfe für das Kind gefunden hatte.

Diese Not brachte sie auf den Weg … und sie erreicht schließlich vom Ministerium für Telekommunikation die Einrichtung einer  gebührenfreien Rufnummer für Kinder in Not. »Heute gibt es in Indien Notrufnummern für Frauen, für Behinderte und für Drogenabhängige«, erläutert Jeroo. »Aber damals, 1993, war das ein vollkommen neues Konzept.« Sie baute »Childline« auf, ein Netzwerk von Kinderhilfsorganisationen, richtete Callcenter ein, bildete Straßenkinder als Mitarbeiter aus und übertrug schließlich die Idee auf andere Städte Indiens, so dass im Jahr 2000 »Childline« in 30 Städten aktiv war und jährlich eine halbe Million Anrufe beantwortete. 2002 trat Jeroo zurück, weil sie der Meinung ist, dass jeder Gründer nach fünf bis sieben Jahren gehen sollte. Ein Jahr nach ihrem Rücktritt hat sie die Organisation »Child Helpline International« gegründet – und Gruppen aus über vierzig Ländern zur ersten »Internationalen Konsultation für Kindernotrufe« eingeladen.

Dieses Beispiel veranschaulicht, wie eine konkrete soziale Not zum Brennpunkt für ein gesellschaftliches Mit- und Füreinander wird. Die »Sozialunternehmer« als Motoren des Wandels, kreative Schöpfer und Visionäre. 

Was lernen wir daraus für die Pädagogik? 

Was heißt das für uns Eltern und Lehrer? Genügt es, wie Bornstein vorschlägt, im Unterricht den Schülern eine Vorstellung von Sozialunternehmertum als neues Berufsbild zu vermitteln? Oder bedarf es darüber hinaus konkreter Aktionsfelder, in denen die Jugendlichen ihr Potenzial als soziale Unternehmer entdecken und entwickeln können?

Es geht um ein neues Unternehmertum, so Günter Faltin, Gründer der Teekampagne, in seinem Buch »Kopf schlägt Kapital«. Beuys sagte: »Jeder ist ein Künstler«, Faltin: »Jeder ist ein Unternehmer«. Faltin versteht den neuen Unternehmertypus als Künstler und nicht primär als Manager. Der Künstler, der seinen Intuitionen und Leidenschaften folgt, neue Ideen entwirft, Konzepte entwickelt. Die meisten haben ihn jedoch noch nicht in sich entdeckt, weil der Begriff des Unternehmers noch mit negativen Attributen belegt ist, und weil unser Bildungssystem das Entdecken dieses Potenzials verhindert.

Auf pädagogischem Feld gibt es bereits viele unternehmerische Projekte, zum Beispiel in Form von Schülerfirmen, die sich bewährt haben und Bestandteil des Schullebens geworden sind: Der EineWeltLaden El Sol in Wangen, Blink Fair in Hamburg, Steinbrücke in Berlin oder Nyendo in Ismaning. Sie alle stellen sich den wirtschaftlichen Herausforderungen und bringen den jungen Menschen das Thema Globali­sierung auf praktisch-konkrete und nachhaltige Weise nahe.

Bei dem Bemühen, globales und unternehmerisches Lernen zu verbinden, entstand an der Freien Waldorfschule Chiemgau die Idee, als Einführung, Auftakt und Initialzündung für ein daran anschließendes unternehmerisches Engagement der Schüler ein Theaterstück zu schreiben. Nötig ist eine Mischung von Information (Aufklärung) und Emotion (persönlicher Ergriffenheit). Und dieses Theaterstück wurde inzwischen selbst zu einem unternehmerischen Projekt. 

»Globali-was? oder: die rote Jacke« 

»Globali-was? oder: Die rote Jacke«, so haben die Schüler der Klasse 10A der Priener Waldorfschule ihr Projekt getauft. »Wir wollen im Fach Sozialkunde und Politik keine Vorträge und kein trockenes Zeugs«, sagten sie sich. Sie wollten  die Wirtschaft erlebbar machen, und zwar im Theaterspiel durch eigenes Tun. Die Recherchen der Schüler bildeten die Grundlage für den Theatertext, der von der Regisseurin und Theaterpädagogin Dagny Reichert ganz nach den Wünschen der Jugendlichen umgesetzt wurde. Inzwischen haben die  Proben begonnen.

Die Klasse ist auf allen Ebenen eingebunden. Einige stehen als Schauspieler auf der Bühne, andere kümmern sich um die Organisation von Requisiten und Kostümen, machen Öffentlichkeitsarbeit, erstellten eine Webseite und haben soeben das Projekt auf dem Ismaninger Schülerkongress »wirtschaft anders denken« erfolgreich präsentiert. Sie baten den Bürgermeister um die Schirmherrschaft, stellten das Projekt auf der Schulsprechertagung vor und organisieren nun selbstständig Gastspiele an anderen Schulen, beteiligen sich an Wettbewerben, verfertigen Vorlagen für Plakate und Broschüren – und das alles neben der Schule, in ihrer Freizeit!

Hier ereignet sich das, wonach sich mancher Unternehmer nur sehnen kann: Ideen werden ge­boren, Impulse aufgegriffen und umgesetzt. Dass die Schüler sich dadurch bereits sehr stark mit der Thematik verbunden haben, und auf den Proben immer wieder intensiv über aktuelle Tagesmeldungen diskutieren, versteht sich von selbst: Sie sprechen über Kinderarbeit auf usbekischen Baumwollfeldern, senegalesische Wirtschaftsflüchtlinge auf spanischen Gemüseplantagen und menschenverachtende Arbeitsbedingungen bei der Textilfirma XY.

Ethik in Unternehmen ist das bewegende Thema unserer Zeit. Und wenn wir anfangen, Wirtschaft anders zu denken, scheint es nur logisch, auch Schule anders zu denken, neue Wege zu suchen, um globale Zusammenhänge emotional erfahrbar zu machen, Raum für Empathie und Leidenschaft zu geben und jene Fragen zu stellen, die dem kommenden Typus des Sozialunternehmers eigen sind: Was kann ich für die Gesellschaft tun? Wie agiere ich so, dass alle Seiten gleichermaßen von meinem Tun profitieren?

Die Premiere von »Globali-was? oder: Die rote Jacke« ist für den 18. Februar 2011 im Kleinen Kursaal in Prien geplant. 

Link: www.waldorfschule-chiemgau.de/globali_was_oder_die_rote_jacke.phtml