»Hier fühlen wir uns wahrgenommen«

Angelika Oldenburg

Stau auf der Autobahn unter grauem Himmel. Am Steglitzer Kreisel kann man sich leicht verirren: U-Bahn, S-Bahn, Schnellstraßen, Busbahnhof. Über allem das Hochhaus, eines der skandalumwitterten Senatsprojekte der 1970er Jahre. Idyllisch ist es hier ganz sicher nicht. Zwei Schüler kommen mir entgegen, die frage ich: »Ist hier irgendwo die Molt-Akademie?« Sie gucken verständnisvoll, zeigen an den abfahrenden Bussen und den wartenden, verstohlen rauchenden Menschen vorbei nach hinten, da sei der Eingang. Ich ruf ihnen noch hinterher: »Und, ist es eine gute Schule?« Sie grinsen: »Ja, ganz lustig«. Das klingt zumindest nicht abschreckend.

Tatsächlich befindet sich hinter dem Busbahnhof der Eingang zur Emil Molt Akademie im zweiten Stock, in den anderen Stockwerken gibt es einen Zahnarzt, eine Kampfsportschule und den Singletreff »Mikado«. Die Wände sind knallorange gestrichen, früher war hier die Verwaltungsetage von »globetrotter«, die Farbe ist geblieben. Schnurgerade Flure, in einem Viereck um einen Lichthof angeordnet, der direkt vom Hochhaus begrenzt wird. In den Klassenräumen arbeiten Schüler in kleinen Gruppen, »wir holen hier Englisch nach«, »wir sind die kaufmännischen Assistenten, wir gründen gerade eine Firma – naja, nicht richtig, aber wir lernen alles, was man dazu braucht«. Es gibt auch einen Eurythmie-Raum, aber es ist kein Raum, sondern eine größere Ecke, frei zugänglich, auf einem der Flure, verschönert durch ein schwarzes Panorama der Berliner Skyline, mit Fernsehturm. Dennoch, so versichert der Geschäftsführer, der mich durch die Räume führt, sei hier neulich der Erlkönig aufgeführt worden, »richtige Eurythmie, ganz bewegend, und sogar mit Schleier«. Da kommen wir auf unserem Gang durch die Schule an einem Tischkicker vorbei, und ich erinnere mich an die wilden Kämpfe, die in der Zeit, als ich Waldorflehrerin war, von den Lehrern ausgefochten wurden, um so ein Gerät zu verhindern.

Alternative zum Waldorfgymnasium

Etwa 200 Schüler werden hier bis zur Allgemeinen Fachhochschulreife ausgebildet, mit den Schwerpunkten Wirtschaft und Soziales. Auf dem Weg dorthin gibt es Ausbildungen zum Sozialassistenten, zum Heilerziehungspfleger, zum kaufmännischen Assistenten und zur Fremdsprachensekretärin. Einsteigen kann man mit dem Hauptschulabschluss, mit der Mittleren Reife oder mit einer Berufsausbildung. Die Folge ist eine große Heterogenität der Schüler, die Altersspanne liegt zwischen sechzehn und dreißig, Bildung und Auffassungsgabe differieren ebenso. Ein Spagat für die Lehrer, der sie jeden Tag wieder neu fordert. Aber in den meisten Fällen scheint er zu glücken.

Die Schüler einer Klasse der Sozialassistenten, mit denen ich spreche – etwa 15 sind heute da, die Hälfte »mit Migrationshintergrund«, aus Griechenland, Serbien, der Türkei, Kenia, dem Sudan – äußern sich überwiegend wohlwollend. Die Lehrer seien sehr sympathische Leute, sagt einer ganz ernst. »Es herrscht nicht dieses Hierarchie-Verhältnis: Ich bin oben, ihr seid unten. Wenn wir Probleme haben, können wir immer mit jemandem sprechen.« Ein Mädchen ergänzt: »Wir können uns hier an jeden wenden. Fast jeder Lehrer kennt uns, auch wenn wir gar keinen Unterricht bei ihm haben.« – Aber dennoch sei es hier freier als an mancher Waldorfschule, wo man, wenn man Pech hat, von der ersten bis zur 12. Klasse aus »seinem Kästchen« nicht mehr herauskommt. »Wir akzeptieren uns auch gegenseitig in der Klasse, gerade, weil wir so verschieden sind.« Etwa ein Drittel der Schüler der Emil Molt Akademie kommt aus anderen Waldorfschulen, der Rest »von überallher«. »Mit den Abschlüssen hier ist eine Alternative zu dem im Allgemeinen doch recht üblichen Stil des ›Waldorf-Gymnasiums‹ angestrebt«, erläutert Geschäftsführer Hans Hutzel. Die Emil Molt Schule, eine Waldorfschule in Zehlendorf, hatte damals den Impuls, eine andere Art Oberstufe für Waldorfschüler aufzubauen. Darauf hat der Senat reagiert, und daraus ist die Moltakademie entstanden.« Denn gab es am Anfang, bei der Gründung der ersten Waldorfschule, nicht doch das Ideal einer ganz anderen Schule, wo man lernend arbeitet und arbeitend lernt? Natürlich müssen die staatlichen Rahmenpläne erfüllt werden – und die Berliner Abteilungen für berufliche Bildung sind besonders anspruchsvoll, die Kontrollen besonders hart.

Lernen lieben lernen

Viele Schüler haben sehr brüchige »Schulkarrieren« hinter sich und viele Schüler ein Willensproblem. »Sie haben einen Impuls und können nicht dranbleiben. Wenn sie eine Matheaufgabe oder einen Text nicht sofort verstehen, dann geben sie auf. Viele haben während ihrer Schulzeit niemals erfahren, dass ich üben kann und dabei unterstützt werde, wenn ich etwas nicht sofort kann. Doch das ist die entscheidende Erfahrung«, erzählt Pädagogik-Lehrerin Marlies Nagelsmann. Und Hans Hutzel knüpft an: »Für mich ist genau das Waldorfpädagogik. Die klassischen Antworten, die ›Waldorffolklore‹, die funktioniert hier nicht. Der Kern unserer Schule liegt wohl auch nicht im Künstlerischen, sondern er geht vom Kollegium aus, von der Beziehungsarbeit. Mittlerweile haben wir ein Traumkollegium, weil alle an etwas dran sind. Der Lehrer muss geistesgegenwärtig sein, gucken: Wer kommt auf mich zu? Mit dem kommt die Zukunft. Darauf reagiere ich. Was brauchst du? Das kann manchmal Darstellendes Spiel sein, das kann Wirtschaft sein, das kann auch etwas ganz anderes sein. Ein Schüler hat hier sein erstes Buch gelesen, »Tschick« von Wolfgang Herrndorf, der hat gefragt: Steht in allen Büchern so was drin? Dann will ich Bücher lesen.« Noch einmal Marlies Nagelsmann: »Wir hatten mal eine Schülerin, die hat nach dem Theaterspielen ausgerufen: Und wenn ihr hier alles aufgeben müsst – das Darstellende Spiel, das dürft ihr nicht aufgeben. Das hat mein Leben verändert! Es ist eine Herausforderung, in einer bloß einjährigen Ausbildung dieses Vertrauen von den Schülern zu bekommen. Man muss immer wieder neu probieren, Routine geht nicht. Wenn dann die Schüler sagen: Hier fühlen wir uns wahrgenommen, dann ist das genau das, was wir wollen.«

www.emil-molt-akademie.de

Zur Autorin: Angelika Oldenburg ist Lehrerin und Journalistin, Redakteurin der Programmzeitschrift »mittendrin –  Anthroposophische Impulse in Berlin«