Und nun doch mit Mathematik

Frauke Weber

»Bloß nichts mit Mathematik« ist ein Gedanke, den ich früher oft hatte, wenn es darum ging, was ich beruflich machen wollte. Da mir die gestalterischen Fächer sehr lagen, entschloss ich mich in der 9. Klasse des Gymnasiums dazu, ein Berufskolleg für Gestaltung zu besuchen. Kaum war mir der Gedanke gekommen, stieß ich auf das Berufskolleg der Freien Waldorfschule in Sankt Augustin. Bei einem Informationsabend über die Schule erklärte sich das Schulkonzept quasi von selbst. Schnell war für mich klar, dass mich diese Art von Schulsystem – der Schüler arbeitet drei Tage in der Woche in einem Betrieb und ist zwei Tage in der Schule – sehr interessierte. Allerdings konnte ich nicht sofort auf das Waldorf-Berufskolleg wechseln, da man für die Aufnahme die Fachoberschulreife benötigte. Aufgrund meiner Noten und den sozialen Ungeklärtheiten zwischen Lehrpersonal und Schülern suchte ich ohnehin ein neues Umfeld und entschloss mich, für die kommenden zwei Jahre die Waldorfschule zu besuchen, die mit dem Berufskolleg verbunden ist. Mit jedem Jahr an dieser Schule haben sich meine Noten durch das harmonische Umfeld verbessert. Nachdem ich meine Fachoberschulreife in der Waldorfschule erworben hatte, wechselte ich also auf das Berufskolleg der Waldorfschule.

Im ersten Jahr der zweijährigen Ausbildung arbeitet man die ersten drei Tage der Woche an einem betrieblichen Arbeitsplatz. An den anderen beiden Tagen besucht man dann das Kolleg, wo man außer den regulären Hauptfächern (Mathematik, Deutsch, Englisch) auch das Fach Gestaltung hat. Meinen Arbeitsplatz in den Werkstätten am Theater Bonn habe ich dank eines Hinweises der Lehrer gefunden. Dort hatten bereits Schüler der vorherigen Jahrgänge einen Platz bekommen. Damit habe ich allerdings Glück gehabt. Andere Schüler meines Jahrgangs hatten sich bei vielen Betrieben bewerben müssen, bevor sie einen Platz bekamen. Für ein ganzes Jahr einen betrieblichen Arbeitsplatz zu haben, heißt auch, sich nach dessen Regeln zu verhalten. Das bedeutet, auch wenn der Arbeitsbeginn morgens um 7 Uhr ist, dass man dann über seinen Schatten springen muss und auch mal früher aufzustehen hat. Die meisten Schüler aus meiner Klasse (und so auch ich) wurden komplett in den Betrieb eingebunden, wie es für eine Vollzeitstelle typisch wäre. Da ich bereits zwei Jahre auf die Waldorfschule in Sankt Augustin gegangen war, kam ich nicht als »Frischling« in das Berufskolleg. Gemeinsam mit neun Mitschülern aus meiner alten Waldorfklasse, die sich ebenfalls am Berufskolleg beworben hatten, ging ich am ersten Schultag in die Klasse.

Auf den ersten Blick eröffnete sich mir ein buntes Gemisch aus Persönlichkeiten. Mit 30 Leuten war unsere Klasse die größte bisher. Da alle offen und freundlich miteinander umgingen, lebten wir uns schnell ein. Auch durch den künstlerischen Abschluss, der traditionell an der Waldorfschule stattfindet, wuchs die Klassengemeinschaft mehr und mehr zusammen. Da zu diesem künstlerischen Abschluss auch die Eurythmie gehört, mussten sich einige der neuen Schüler erst einmal mit dem Gedanken befassen, welcher der Eurythmie zu Grunde liegt: dass der Mensch in all seinem Tun Körper, Seele und Geist in die Handlung einfließen lässt. Für jemanden, der bisher auf eine Schule mit einem anderem Schulsystem gegangen ist, ist es zunächst schwer, sich in dieses Denken hineinzuversetzen. Für Viele bedeutete das erst mal eine Umstellung. Auch das Auftreten auf der Bühne kostete einiges an Überwindung.

Werkstücke, die benötigt werden

Die anderen drei Tage im Betrieb waren, im Vergleich zum vorherigen Schulleben, eine willkommene Abwechslung. Drei Tage außerhalb der Schule zu sein und zu arbeiten, bedeutete, fast ein Gefühl von »Freiheit« zu haben.

In den Werkstätten »Halle Beuel« arbeitete ich im Berufsbild des Raumausstatters und konnte in diesem Jahr Vieles lernen, was ich bereits vielseitig anwenden konnte. Meine Kollegen und Vorgesetzten waren immer freundlich und hilfsbereit, geduldig und offenherzig. Anders als man es oft vom Betriebseinsatz hört, durfte ich nicht bloß Kaffee kochen und manchmal staubsaugen, sondern direkt an größeren Projekten mitarbeiten und auch selbstständig kleinere Projektarbeiten anfertigen. Vom Kolleg aus sollten insgesamt vier Praktikumsberichte angefertigt werden, die sich um die Arbeit im Betrieb drehten. Für den dritten Bericht galt es, ein Werkstück anzufertigen, das möglichst viel vom Berufsbild widerspiegelte. Ich hatte die Möglichkeit, einen Sessel komplett neu aufzupolstern und zu beziehen. Dass meine Arbeit und meine Arbeitsprodukte dann auf die Bühne der Oper Bonn und der Kammerspiele Bad Godesberg kamen, hat mich natürlich sehr gefreut und motiviert. Auch wenn die Praktikumsberichte meist viel Arbeit bedeuteten, haben sie mir im Praktikumsalltag immer etwas gebracht, denn so konnte ich mir Grundlagen für die verschiedenen Aufgaben schaffen. Durch mein Vorwissen über Materialien oder Werkzeuge wusste ich schnell, wie mit den Werkstoffen umzugehen war.

Der Arbeitsalltag in der Werkstatt und im Betrieb hat mir einen umfassenden Einblick in das Berufsleben und die organisatorischen Aspekte der Arbeitswelt verschafft, durch den ich sicherer in das Berufsleben einsteigen kann.

Wenn Schule neue Qualitäten bekommt

Nach dem Jahr Betriebseinsatz kam es mir zunächst ungewohnt vor, anschließend die ganze Woche unterrichtet zu werden. Trotzdem habe ich gemerkt, dass mir das Lernen noch mehr Spaß macht als vorher. Jetzt im zweiten Jahr der Ausbildung am Berufskolleg gibt es einige neue Unterrichtsfächer wie zum Beispiel Gestaltungsinformatik, Zeichnen oder Kunstgeschichte. Dadurch, dass nun die ganze Woche Unterricht gegeben wird, können sich alle Schüler gut auf den Stoff einlassen. So haben sich die meisten Noten aus dem letzten Jahr noch einmal verbessert. Denn, auch wenn »Waldorf« immer ein Stück weit familiäres Klima für mich bedeutet, geht es an diesem Kolleg schließlich um die Leistung eines jeden Schülers.

Insgesamt ist das Schulerlebnis an diesem Kolleg und auch an der Waldorfschule ein weit harmonischeres als anderen Schulen. Durch die persönlichkeitsorientierte Arbeitsweise kann ich nun auf ein sehr gutes Fachabitur zusteuern. Für meine Zukunft im Arbeitsalltag gehe ich nun doch in Richtung Naturwissenschaften und Mathematik. So haben diese Erfahrungen sehr zu meiner Persönlichkeitsbildung beigetragen und ich kann sagen, dass ich glücklich bin, das Berufskolleg besucht zu haben.