Weg von der Zuschauer-Demokratie

Dietrich Spitta

Der omnipotente Staat

Der Staat wird heute ganz selbstverständlich als zuständig und kompetent für die gesetzliche Regelung aller Lebensbereiche angesehen. Rudolf Steiner sprach schon vor hundert Jahren von einer Omnipotenz des Staates. So wird unter anderem das Schulwesen vom Staat gesetzlich reglementiert und verwaltet. Dies gilt bekanntlich auch weitgehend für die sogenannten »freien« Schulen. Ebenso wird das Hochschulwesen durch staatliche Gesetze geregelt. Steiner hingegen hat sich intensiv dafür eingesetzt, das geistige Leben und insbesondere das gesamte Schul- und Hochschulwesen von der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung zu befreien. Aufgrund der weitgehenden finanziellen Abhängigkeit der freien Schulen vom Staat treten ihre Vertreter leider kaum noch für die Befreiung des gesamten Schulwesens von der staatlichen Reglementierung und Verwaltung ein.

Auch das Wirtschaftsleben ist gegenwärtig nicht frei von staatlicher Reglementierung, denn diese zwingt die Wirtschaftsunternehmen durch das gesetzliche Kartellverbot mit hohen Strafandrohungen zu einem Konkurrenzkampf mit vielen negativen Folgen und verhindert das Entstehen einer assoziativen Zusammenarbeit zwischen allen Marktbeteiligten.

Von einer »freien« Marktwirtschaft kann keine Rede sein, so wenig wie von einer »sozialen«, denn das »Soziale« kommt nur von außen durch die staatlichen Sozial- und Arbeitsschutzgesetze.

Die Beschränkung der Staatsmacht

Die Allzuständigkeit des Staates wurde schon von Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift über die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« als schädlich für die freie Entwicklung und Entfaltung des Menschen dargestellt. Darin entwickelte er die negativen Folgen, wenn der Staat für das physische und moralische Wohl seiner Bürger sorgt und stellte dar, dass er nur die Aufgabe hat, für die innere und äußere Sicherheit seiner Bürger zu sorgen.

Steiner hat mehrfach auf diese Schrift Humboldts hingewiesen und bemerkt, dass seine Ideen hätten fortgebildet werden müssen. Dies hat er dann selbst getan und die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus entwickelt, in dem das Geistesleben sich selbst verwaltet, das Wirtschaftsleben assoziativ geregelt und der Staat auf die Erhaltung der Sicherheit beschränkt wird.

Die Mittelstellung des Staates und der »widerrechtliche Fürst«

Vom Gesichtspunkt der Dreigliederung des sozialen Organismus aus handelt es sich beim Staat um das mittlere Glied zwischen dem Geistesleben auf der einen und dem Wirtschaftsleben auf der anderen Seite. In einem Vortrag vom 8. Februar 1919 hat Steiner ausgeführt, dass das irdische Geistesleben mit dem vorgeburtlichen Leben des Menschen in der geistigen Welt zusammenhängt. Die irdisch-geistige Kulturwelt sei ein Geschenk aus dem vorgeburtlichen Leben. Im Wirtschafts­leben hingegen würden unbewusst Tätigkeiten ausgeübt, deren Wirkungen wir in unser Leben nach dem Tode hinaustragen. Je nachdem, wie wir im Wirtschaftlichen handeln, ob selbstlos und brüderlich oder egoistisch, würde sich dies in unserem Leben nach dem Tode auswirken.

Vom Staatsleben hingegen sagt Steiner, dass es nichts zu tun habe mit dem Vorgeburtlichen oder mit dem Nachtodlichen. Es finde seine Ordnung nur in der Welt. Es werde aber von dem Geistigen, das wir aus dem vorgeburtlichen Leben mitbringen, durch Inspirationen »seitwärts durchstrahlt«. Wenn der Staat das geistige und wirtschaftliche Leben einbezieht, führt dies zur Herrschaft »des widerrechtlichen Fürsten dieser Welt«. Dessen ständig zunehmendes, erschreckendes Wirken können wir heute weltweit deutlich wahrnehmen. Demgegenüber hält Steiner für notwendig, den »widerrechtlichen Fürsten dieser Welt« durch staatliche Gesetze zu bändigen. Dies wird jedoch gegenwärtig durch die Lobby-Tätigkeit der Wirtschaft weitgehend verhindert.

Die Gliederung des Rechts

Das gesamte Rechtsleben wird gegenwärtig von der staatlichen Gesetzgebung geregelt. In der heutigen Rechts­wissenschaft unterscheidet man nur zwei Rechtsgebiete: das öffentliche Recht und das Privatrecht, wobei das Strafrecht zum öffentlichen Recht gerechnet wird. Für die Abgrenzung des Privatrechts vom öffentlichen Recht stellt man heute grundsätzlich darauf ab, ob zwischen den Beteiligten ein Verhältnis der Über- und Unterordnung oder der Gleichordnung besteht. Im ersten Falle würde es sich um öffent­liches Recht, im zweiten Falle um Privatrecht handeln. Bei dieser abstrakten Abgrenzung kann jedes private Rechtsverhältnis durch ein Gesetz in ein öffentlich-rechtliches umgewandelt werden. Dies ist zum Beispiel der Fall im Schulrecht, in dem das eigentlich private Rechtsverhältnis zwischen der Schule und den Eltern vom Staat gesetzlich geregelt und damit zu öffentlichem Recht wird.

In der anthroposophischen Sozialwissenschaft hingegen werden Privatrecht, öffentliches Recht und Strafrecht nicht nach diesen abstrakten Grundsätzen, sondern nach der Natur der zugrundeliegenden Rechtsverhältnisse unterschieden. Steiner charakterisiert das öffentliche Recht als »das Recht, das sich auf die Sicherheit und Gleichheit aller Menschen bezieht«, das Strafrecht als das, »was Recht ist gegenüber einer Rechtsverletzung« und als Privatrecht das, was Recht ist »gegenüber dem, was eben private Verhältnisse der Menschen sind«. Er betont, dass nur das so verstandene öffentliche Recht im Staate seine Regelung finden soll, während das Privatrecht und das Strafrecht in das Gebiet des Geisteslebens gehören. Was er damit meint, kann man verstehen, wenn man berücksichtigt, dass schon im alten Rom das Privatrecht sich in einer tausendjährigen Rechtsprechung aus dem ursprünglichen Zwölftafelgesetz entwickelt hat und erst im Laufe des 6. Jahrhunderts durch Kaiser Justinian im »Corpus Juris Civilis« als Gesetz festgelegt wurde.

Auch in Deutschland wurde das Privatrecht erst durch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ab dem Jahre 1900 gesetzlich geregelt. Vorher hat es sich aus der im Mittelalter begonnenen Übernahme (Rezeption) des Corpus Juris Civilis durch die Rechtsprechung als sogenanntes »gemeines Recht« entwickelt und die germanischen Stammesrechte verdrängt. In England ist das Privatrecht (Common Law) noch heute Richterrecht.

Beim Strafrecht muss man unterscheiden zwischen der gesetzlichen Festlegung dessen, was strafbar ist und wovor die Bürger geschützt werden sollen und der richterlichen Entscheidung, welche Rechtsfolgen eine strafbare Handlung haben soll. Bei der Festlegung der strafbaren Handlungen geht es um die Sicherheit, die zu gewährleisten Aufgabe des Staates ist.

Bei der Entscheidung hingegen, welche Rechtsfolgen eine Straftat haben soll, geht es um die Erkenntnisfrage, welche Strafe oder Auflage dem einzelnen Straftäter »gerecht« wird, die vom Richter im Einzelfall individuell entschieden werden muss.

Die Verbindung des Rechts mit Seele und Geist

Die dreigliedrige Betrachtung des sozialen Organismus in Geistesleben, Staatsleben und Wirtschaftsleben kann man als eine »horizontale« charakterisieren. Steiner hat jedoch in einem Vortrag vom 16. Juli 1918 die Notwendigkeit betont, den sozialen Organismus auch viergliedrig, gewissermaßen »vertikal«, zu betrachten. Es komme darauf an, »dass man begreifen lernt, dass die Menschen zu höheren Begriffen noch kommen müssen, als der des Organismus ist, wenn sie die soziale Struktur begreifen wollen.«

Diese soziale Struktur könne niemals nur als Organismus begriffen werden, sondern nur so, dass in jedem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen Geist wirke. Steiner kommt es darauf an, im sozialen Organismus nicht nur die äußere Struktur und das organische Zusammenwirken der Menschen zu betrachten, sondern auch die seelischen und geistigen Wesenheiten, die dem sozialen Zusammenleben zugrunde liegen, zu berücksichtigen. Dies wird bei Betrachtungen über den sozialen Organismus kaum beachtet. Bei solchen Betrachtungen wird vielfach auch ein methodischer Fehler gemacht, indem versucht wird, aus den von Steiner in Form von Ideen gemachten Vorschlägen zur Lösung der verschiedenen großen sozialen Probleme theoretisch konkrete Vorstellungen auszudenken.

Steiner ging es darum, dass in allem sozialen Wirken nicht von theoretisch ausgedachten abstrakten Vorstellungen, sondern von der jeweils bestehenden sozialen Situation ausgegangen und gemeinsam versucht wird, diese im Sinne der entsprechenden Idee weiter zu entwickeln; ferner dass bei allem sozialen Denken und Handeln eine innere Verbindung mit den wesenhaften spirituellen Kräften angestrebt wird, die der Entwicklung von Menschheit und Erde zugrunde liegen.

Zum Autor: Dr. Dietrich Spitta war Rechtsanwalt, Gründungsmitglied des Vereins Filderklinik e.V. und Vorsitzender der Mahle-Stiftung.

Literatur: D. Spitta: Privatrecht, öffentliches Recht, Strafrecht. Ein skizzenhafter Beitrag zu einer anthroposophischen Rechtslehre in: S. Leber (Hrsg.): Der Mensch in der Gesellschaft, Stuttgart 1977. | Ders.: Menschenbildung und Staat. Das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts angesichts der Kritik des Humanismus, Stuttgart 2006 | Ders.: Kooperation statt Konkurrenzkampf in: Die Herausforderungen der Globalisierung. Konzepte und Grundlagen einer solidarischen Wirtschaft, Stuttgart 2010 | Ders.: Der soziale Organismus als Mysterium, Stuttgart 2015 | Ders.: Mensch, Recht und Staat. Ihr Wesen und ihre notwendige Weiterentwicklung, voraussichtlich Stuttgart 2017