Arbeiten und Lernen

Hans Hutzel

Rudolf Steiner insistiert schon vor fast hundert Jahren in den Grundlagenvorträgen zur Schulgründung, in den »Methodisch-didaktischen Vorträgen«, häufig auf dem ökonomischen Unterrichten: »Das werden wir aber nur erreichen können, wenn wir eine goldene Regel anwenden werden gerade bei den älteren Kindern, die wir bekommen werden und die wir bald an die andern Anstalten des Lebens entlassen werden müssen: ökonomisch zu unterrichten.« Das bedeutet, diese unterschiedlichen Lernfelder parallel und sich gegenseitig stützend zu unterrichten. Es war schon damals eine große Herausforderung und ist es heute wohl noch mehr. Gelingt uns dies oder geraten viele Schulen hier an Grenzen und entsteht ein Ungleichgewicht?

Im Lehrplan der Waldorfschulen sind die unterschiedlichen Lernfelder von Grund auf miteinander verknüpft. So zum Beispiel Geographie und Wirtschaftsgeschichte, aber auch Handwerk und Industrie.

Aufbau und Abfolge der praktischen Tätigkeiten in der Schule bilden quasi die historische Entwicklung des Handwerks und der Technik oder Industrie nach. So erlebt der Schüler durch praktisches Tun die Wandlung der Arbeitsfelder und der Handwerksberufe mit. Praktisches Tun übt er in der Landwirtschaft mit Säen und Ernten, Handwerkliches in der Hausbau-Epoche im Umgang mit Holz, Stein und Mörtel, die handwerklichen Fertigkeiten werden dann verfeinert durch Schnitzen und Schreinern. Und der Übergang vom Handwerk zur Technik wird im Industriepraktikum vollzogen, sofern es noch stattfindet.

Es ist ein runder, schlüssiger Aufbau, den die Schüler ganz praktisch erfahren. Sie nehmen dabei viel mit, was ihnen und den Schulen oft positiv gespiegelt wird – von Eltern, die darauf Wert legen, bis hin zu Arbeitgebern. Bisweilen wird das den Schülern erst bewusst, wenn sie aus der Schule draußen sind und in diesen alltagspraktischen Dingen merken: Ich kenne mich in vielen Feldern aus und ich kann mir etwas zutrauen!

Dennoch stellt sich die Frage, wie dieses im Lehrplan und in der Konzeption angelegte Potenzial in der heutigen Zeit besser erschlossen werden kann. Auch die Waldorfschulen sind geprägt von der »Leitwährung« Abitur und Studium. Oft überlagert und verdrängt der Weg in die Akademisierung, das primär angestrebte Ziel, alles Andere. Warum ist das so, wo doch alles auf den Gleichklang von Kopf, Herz und Hand ausgerichtet sein sollte? Sind es nur die gesellschaftlichen Prioritäten, die hier in die Schule drücken und das Grundanliegen überformen? Welchen Anteil haben die Schulen selbst und wie kann die im Lehrplan angelegte Gleichwertigkeit besser realisiert werden? Das scheint mir eine zentrale Zukunftsaufgabe der Waldorfschulen zu sein.

Zurecht und aus pädagogisch wichtigen Gründen sind die handwerklichen Fächer an Waldorfschulen gemäß den menschenkundlichen Entwicklungen angeordnet. Sie richten sich an den für die jeweilige Altersstufe geltenden Weltzugängen aus: Nachahmung, Begreifen, Einbindung in den lebensweltlichen Zusammenhang. Später werden die individuellen Gestaltungskräfte entwickelt. Der Unterricht konfrontiert die Schüler mit den Besonderheiten des Materials und den spezifischen Herausforderungen der modernen Arbeitswelt auf allen Ebenen, eben auch der praktisch-handwerklichen Felder. Vor diesem Hintergrund sind vormoderne Handwerks-Erfahrungen wie das Korbflechten und Buchbinden durchaus sinnvoll für die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit, sich in diese Zusammenhänge und damit in die historischen Situationen einzufühlen.

Sie bieten einen haptischen Zugang zu einer vormodernen Zeit und ermöglichen den Schülern, das kognitiv vermittelte Bild mehrdimensional zu gestalten und zu verstehen. Wie kann dies aber weitergeführt werden? Die Waldorfschulen ringen um Wege, dieses Gleichgewicht bis in die Oberstufe durchzuhalten.

Modernes Verständnis von Handwerk

Das gängige Bild von dem Handwerk ist in unserer Gesellschaft oft überholt. Viele denken, Sanitär-Techniker sind beispielsweise die, die Kloschüsseln die Treppenhäuser hochwuchten müssen. Dass es sich bei diesem Handwerksberuf um einen hochspezialisierten, technisch viel­fältigen Beruf handelt, sehen die meisten nicht. Der Sanitär-Techniker berät Kunden und Architekten. Er benötigt digitale Fertigkeiten in der Planung, muss komplexe ökologische Zusammenhänge von Heizung, Lüftung und Wasserversorgung verstehen, aber auch handwerkliches Geschick beim Einbau von vielfältigen Geräten zeigen. Dieses moderne Berufsbild erscheint in der Schule – leider auch in Waldorfschulen – selten. Die Herausforderung an die Waldorfschule ist es folglich, den Bogen weiter zu spannen: von der Entwicklung des Handwerks, von den Grundtechniken und historischen Ursprüngen bis hin zu interdisziplinären und komplexen modernen Berufsbildern.

Das bedeutet konkret eine Weiterentwicklung des Lehrplans. Ein zeitgemäßes Bild der handwerklichen Berufe muss für die Schüler anschaulich werden. Dies kann über interdisziplinäre Verknüpfungen von kognitiven Fächern und Lerninhalten mit praktisch handlungsorientierten Fragen erreicht werden: Welche Herausforderungen stellt die Physik bei der Materialverwendung und Technik beispielsweise in der modernen Fahrzeugherstellung? Wie werden ökologische Erkenntnisse zu konkreten Handlungsoptionen im Handwerk: bei der Wasserver- und -entsorgung, bei alternativen, regenerierbaren Energiequellen – etwa bei der Planung und beim Bau eines Blockheizkraftwerkes als Anforderung an modernes handwerkliches Tun. Schon in den Jahresarbeiten können digitale Planungstechniken angewandt werden.

Daneben sollten Kooperationen ausgebaut werden mit Betrieben, in denen naturwissenschaftliche Problemstellungen konkret an praktischen Problemen bearbeitet werden und die Freude und das Miterleben von Lösungen den Lerninhalten zusätzlich praktische Bedeutung geben. Die Bereitschaft zu solchen Kooperationen in die Arbeitswelt hinein ist vielerorts vorhanden. Den Betrieben ist daran gelegen, den Schülern Einblicke in moderne Berufsbilder als Karriereoptionen zu bieten. Die Zeit für eine solche Öffnung in die Vielfalt der modernen Arbeitswelt hinein ist günstig. Um dies – bei stets knapper Zeit – realisieren zu können, muss das oben erwähnte (unterrichts-)ökonomische Denken in der Mittel- und Oberstufe weiter entwickelt werden. Da in den höheren Klassen die Bedeutung des Fachlehrers und damit die Spezialisierung zunimmt, er­fordert ein solches Programm eine starke interdisziplinäre Koordination innerhalb der Kollegien.

Arbeiten die Kollegen der kognitiven und praktischen Fächer nicht zusammen, stapeln sich die Anforderungen nur und werden für die Schüler eine zusammenhangslose, kaum zu bewältigende Last. Orte einer solchen Zusammenarbeit wären eher die Mittel- und Oberstufen- konferenzen als die Fachkonferenzen.

Die Überführung von »altem« Handwerk in die moderne technische Anwendung muss für die Schüler erlebbar und mit Sinn erfüllt werden und darf nicht auf halbem Wege abgebrochen und den kognitiven Fächern geopfert werden: Es gibt heute keine Korbflechter mehr und auch kaum noch Schmiede, aber Mechatroniker. Hier sehe ich an vielen Schulen, dass dieser Zusammenhang und die »Parallelführung« von handwerklichen, technischen und kognitiven Entwicklungen abbricht und auseinanderfällt. Es gelingt uns in den Schulen nicht mehr, diese Mehrdimensionalität im Zuge des Fortschritts zu realisieren. Innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Hand- und Kopf-Fächern verrutschen uns die Lernprozesse zunehmend Richtung Kopf.

Warum verlieren die Waldorfschulen die Bodenhaftung?

Woran mag es liegen, dass die eigenständigen handwerklichen Arbeitsqualitäten gegenüber den kognitiv-intellektuellen Fächern an Boden verlieren? Ein Element ist sicher der extrem starke gesellschaftliche Druck in Richtung Akademisierung. Im gesellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre wurde sie für viele Berufsfelder gefordert, in sozialen Berufen, aber eben auch in den ursprünglich handwerklichen Berufs­bildern. Der Pisa-Schock ging nicht spurlos an den Waldorfschulen vorüber. In der Folge wurde durch die OECD eine Akademisierung forciert, die ihre Wirkung auch in unseren Schulen entfaltet. Das Studieren an sich und die Hochschulzugangs­berechtigung wird bisweilen zum Leitbild und Ziel der Schule inthronisiert, so dass andere Berufswege dagegen verblassen und den Schülern nicht mehr als erfahrbare Alternative real nahegebracht werden. Die Empfehlung an Deutschland war: mehr Abiturienten, mehr Menschen an die Hochschulen, mehr akademisch Gebildete.

Aber dieser Weg führt langfristig zu einer Vereinseitigung. Gerade für heutige Schüler sollte die ganze Breite der Berufe sichtbar werden und deren Wertigkeit muss neu justiert werden, damit der einzelne Schüler die Chance bekommt, sich auf allen Feldern – den kognitiv-akademischen wie den praktisch-handwerklichen – als selbstwirksam zu erfahren. In den Waldorfschulen war diese Breite ursprünglich angelegt. Nun gilt es, diesen Impuls neu zu ergreifen und zu stärken.

Anspruchsvoll durchgeführte Jahresarbeiten könnten hier einen Anreiz bilden: handwerkliche Projekte, die idealerweise zusammen mit Betrieben professionell durchgeführt und als eigenständige Leistungen gewürdigt werden. Es ist zu hoffen, dass es den Waldorfschulen gelingt, gerade die in den unteren Klassen angelegten praktischen Weltzugänge bis in den »gymnasialen« Bereich praktisch erfahrbar zu halten. Es lohnt sich, diese Tradition wieder stärker in den Fokus zu nehmen und Bündnispartner zu suchen.

Zum Autor: Hans Hutzel ist Geschäftsführer und Lehrer an der Emil-Molt-Akademie in Berlin und Mitglied des Vorstandes des Bundes der Freien Waldorfschulen.