Von Stuttgart in die Welt. Die Waldorfschule würdigt den Kulturimpuls der Arbeit

Peter Schneider

Die entscheidende Frage wird in einer Fabrik gestellt

In einem Vortrag am 23. April 1919 vor den Arbeitern und Angestellten der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik hatte Steiner auf die Ungerechtigkeit des dreigegliederten ständischen Schulwesens hingewiesen und eine Schule gefordert, »die es jedem Menschen möglich macht, sich in einer menschenwürdigen Weise die Frage zu beantworten: Was bin ich eigentlich als Mensch«. Anschließend, im Rahmen einer Betriebsratssitzung, wird Steiner von Emil Molt gefragt, ob er die Einrichtung und Leitung einer solchen Schule übernehmen würde. Steiner sagte zu. Dies war die Geburtsstunde der Waldorfschule.

Stuttgart war schon damals eine Stadt moderner Industriearbeit (Bosch, Daimler) und zugleich ein Beispiel, wie eine rohstoffarme Region wirtschaftlich prosperieren kann. Bereits zwei Tage später, am 25. April 1919, im Anschluss an einen Vortrag Steiners vor den Angehörigen der Firma Daimler-Benz, fand die erste Lehrerkonferenz der künftigen Waldorfschule mit Herbert Hahn, Karl Stockmeyer und Emil Molt statt. Die praktisch-gymnasiale Einheitsschule der Zukunft nahm Gestalt an.

Wenig später hat Steiner in drei Vorträgen über Volkspädagogik die »Waldorf-Einheitsschule der Zukunft« weiter konkretisiert: Sie umfasst zehn Schuljahre, eine praktische und theoretische »Lebenskunde« (Ackerbau, Gewerbe, Industrie, Handel), durchaus auch in produzierenden Schulwerkstätten, in denen die Schüler »Dinge fabrizieren, […] die dann einfach ans Leben hinaus verkauft werden können«. Steiner schätzte die praktisch-manuelle Tätigkeit wegen ihres Bildungswertes außerordentlich hoch: »[…] wenn man weiß, dass jemand, der ungeschickt die Finger bewegt, einen ungeschickten Intellekt hat, wenig biegsame Ideen und Gedanken hat, während derjenige, der seine Finger ordentlich zu bewegen weiß, auch biegsame Gedanken und Ideen hat, [...] dann wird man nicht unterschätzen, was es heißt, den äußeren Menschen mit dem Ziel zu entwickeln, dass aus der ganzen Handhabung des äußeren Menschen der Intellekt als ein Stück hervorgeht«. Gleichzeitig wird hier ein grundlegender Transfergedanke der Waldorfpädagogik ausgesprochen: Die altersgemäß richtige Ansprache und Förderung des Intellekts im Kindes- und Jugendalter durch ein sinnvolles praktisches Lernen.

Steiners Ziel war die umfassende und gleichwertige Förderung eines jeden Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr, unabhängig vom sozialen Status: »Und Sie werden sehen, wenn in der Zukunft in den Bildungsanstalten zusammensitzt der Tischler- oder Maschinenlehrling mit demjenigen, der vielleicht selber Lehrer wird, dann wird sich auch da etwas ergeben, was zwar eine spezialisierte, aber noch immer eine Einheitsschule ist.«

Dieses pädagogische Konzept war Teil einer umfassenderen Gesellschaftsvision, deren ideelles Zentrum die Selbstbestimmung des Einzelnen und die Verwirklichung der politischen Freiheit war: »[…] die Schulfrage ist ein Unterglied der großen geistigen brennenden Fragen der Gegenwart. Die Möglichkeit der Waldorfschule muss dabei ausgenutzt werden, um reformierend, revolutionierend im Schulwesen zu wirken«, so Steiner in den Konferenzen.

Lerne und arbeite

Am 2. August 1919 nahm Steiner Stellung zum sogenannten »Weimarer Schulkompromiss«, der Weiterführung des selektiven Schulsystems anstelle der beabsichtigten Einheitsschule: »[…] wenn nicht unsere Seelen so schauerliche Kompromissler wären, dann gäbe es auch im äußeren Leben solche schauerlichen Kompromisse nicht wie der, der jetzt von Weimar ausgeht, der Schulkompromiss […] Vorwärts kommen wir nur, wenn wir den Willen haben zum Lernen und zum Arbeiten, anders kommt der Mensch in die Zukunft und ihre Forderungen nicht hinein. Das wird auch sein neues Christentum sein […] Ich möchte [es] ... zusammenfassen in zwei Worte […] die ganz alt sind, die aber der gegenwärtige Mensch in ganz neuer Art wird begreifen müssen. Und diese Worte sind: Lerne und arbeite! Nur aus diesem Willen und aus diesem Mut kann die neue Devise entspringen:

Ich will lernen, ich will arbeiten!

Ich will lernend arbeiten!

Ich will arbeitend lernen!

Mit diesem pädagogischen Bekenntnis knüpft Steiner an das »Ora et labora« des Benediktinerordens an. Er integriert damit den christlichen Impuls der Würdigung der (körperlichen) Arbeit in die Gegenwart und macht ihn zum Motto allgemeiner Menschenbildung, denn Lernen an der Arbeit ist die schöpferische Grundlage der Freiheit. »Lerne und arbeite« markiert damit den Anfang eines Epochenwechsels, die Erlösung der körperlichen Arbeit aus dem Sklaven­dasein, buchstäblich aus der Leibeigenschaft – ein Prozess, der bis heute andauert. Nach vier Jahren Waldorfschule, am 3. August 1923, bringt Steiner die zentrale Aufgabe der Waldorfschule folgendermaßen auf den Punkt: »Kann man praktisch diese Frage beantworten: Wie wird das Spiel in Arbeit umgewandelt? So hat man das Grundproblem der Volksschulerziehung gelöst.«

In der ersten Waldorfschule in Stuttgart konnte Steiner diese Ideen nur zum Teil verwirklichen. Zwar war in den ersten acht Klassen eine umfassende künstlerische und praktische Bildung aller Kinder veranlagt, doch konnte die von ihm beabsichtigte Integration von praktischer Ausbildung und allgemeinbildender Schule noch nicht realisiert werden. Sie scheiterte an den bestehenden politischen und rechtlichen Verhältnissen. Entstanden ist ein »historischer Kompromiss«. Kurz vor seinem Tod soll Steiner beabsichtigt haben, die Waldorfschule gründlich zu reformieren.

Es gab immer wieder Versuche, an den volkspädagogischen Ursprungsimpuls der Waldorfschule anzuknüpfen. Das bekannteste Modell ist sicherlich die Hiberniaschule in Herne, deren Verbindung von beruflicher und allgemeiner Bildung, in einem staatlich geförderten Modellversuch in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs gebracht wurde. Denn eine Pädagogik, die den Anforderungen der Gegenwart entsprechen will, kann nicht nur einer bestimmten sozialen Schicht oder weltanschaulichen Gruppe vorbehalten sein. Sie muss vielmehr den wissenschaftlichen und sozialen Wandel unserer Zeit voll einbeziehen. Sie muss eine Voraussetzung dafür schaffen, dass sich Menschen entwickeln können und dass sie in ihrer Entwicklung die gesellschaftlichen Bedingungen durch Selbstverwirklichung zu verändern lernen.

Der Akademisierungswahn und die Frage nach einer neuen Bildungsidee

In jüngster Zeit ist die Frage nach einem neuen, zeitgemäßen Bildungsbegriff wieder akut geworden. Unter dem Eindruck der aktuellen Diskussion über die Fehlsteuerung unseres Bildungswesens (»Akademisierungswahn«) will die Waldorfschule einen Beitrag dazu leisten, dass das »Bildungs-Schisma« (Bethge), also die Aufspaltung von Allgemeinbildung und Berufsbildung, überwunden wird – zu Gunsten eines ganzheitlichen Bildungsganges, der praktisch-berufliches Lernen gleichwertig mit kognitivem und künstlerischem verbindet.

Jüngst haben die Waldorf-Berufskollegs für den Bereich der Oberstufe hier einen anschlussfähigen Weg aufgezeigt. Ihre vielfältigen Erfahrungen bieten eine Alternative zum gymnasialen Lernweg, auch innerhalb der Waldorfschulen selbst. Sie müssen in die öffentliche, betriebliche und wissenschaftliche Diskussion gebracht werden.

Zum Autor: Prof. em. Dr. Peter Schneider, Mechanikerlehre, Zweiter Bildungsweg, Fachlehrer und Leiter des Modellversuches an der Hiberniaschule, Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft und Berufsbildung an der Universität Paderborn und der Alanus Hochschule.

Literatur: H. Hahn: Der Weg, der mich führte. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1969 | R. Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, GA 34, Dornach 1907/1987 | R. Steiner: Konferenzen, GA 300a, Dornach 1919/1975 | Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 27/28, Dornach 1969