Jede Bewegung erlebte Ewigkeit

Albert Vinzens

Nachdem ich den 1000 Meter hohen überhängenden Granitmonolithen schon einmal durchstiegen hatte, stand ich zum zweiten Mal vor ihm und zweifelte, ob ich auf einer anderen, noch schwierigeren Route durch die Wand kommen würde – der Zweifel gehört zum Klettern dazu, genau wie die Angst.

Dann ging’s los. Die Kletterei dauerte sieben Tage. Es gab keine schnellen Bewegungen mehr. In Tuchfühlung sein bis in die Zehenspitzen und Fingerkuppen. In den Nächten hingen wir – das Equipment war damals überschaubar simpel – in geknüpften Hängematten, aufgehängt an einem einzigen Karabiner. So dämmerten wir dem kalten Morgen entgegen. Vom Sonnenaufgang bis zum Eindunkeln am Abend waren wir erfüllt von der Arbeit, die uns pro Tag gut hundert Meter höher brachte. Unter uns der Abgrund, der an unseren Nerven zerrte und uns bei der kleinsten Unachtsamkeit in die Tiefe zu reißen drohte. Irgendwann hatte ich das Raumgefühl verloren. Das Klettern war wie ein Tanz im Zeitlupentempo, wie eine Performance auf der Bühne. Die Zuschauer weit weg. Irgendwann kam mir das Zeitgefühl abhanden. Jede Bewegung erlebte Ewigkeit.

Die große Goetheforscherin Katharina Mommsen, mit der ich vor vielen Jahren einmal über das Klettern am El Capitan sprach, meinte, für sie sei die Vorstellung, Menschen würden durch diese Wand steigen, schlichtweg Hybris. Ist es auch, finde ich inzwischen. Doch ich habe es gemacht und ich habe einen Schatz davongetragen. Es gibt so etwas wie eine erotische Beziehung zur Senkrechten zwischen Boden und Himmel, eine geradezu kribbelnde Beziehung zur Atmosphäre, auch wenn das rätselhaft klingen mag. Die mir vertraute Welt hatte eine neue Dimension hinzubekommen und in mir ist eine nie wieder ganz abgeklungene Mischung aus Anziehung und Lampenfieber entstanden, eine Blutaufwallung und Sehnsucht im Leib, begleitet von Wärme im Herzen und vielen
neuen Gedanken.

Manchmal denke ich, mein Hineintasten ins Weltall damals würde sich der Darstellung durch Worte entziehen. Und dann denke ich wieder, es sei dies doch alles ganz normal und alle Menschen würden diesen atmosphärischen Zustand kennen. Weil wir alle zwischen den Tiefen der Ozeane und den höchsten Gipfeln der Erde unsere einmalige und geheimnisvolle Existenz leben! Beim zweiten Mal, als ich durch die Wand des El Capitan stieg, wurde mir das für einige Momente stärker bewusst als sonst in meinem Leben, das ist der einzige Unterschied.

Zum Autor: Dr. Albert Vinzens ist freier Schriftsteller.

https://vinzens.eu